Der Blutrichter
diesen Tag von seinen Arbeiten zu befreien oder den Unterricht zu unterbrechen.
Wie beinahe an jedem Tag zu früher Morgenstunde zitierte der kurzsichtige Mönch Franz seinen Lieblingsspruch: »Ut desint vires tamen es laudanda voluntas«. In diesem Moment trat Bruder Albrecht in die Bibliothek und rief Hinrik zu sich. »Mit deinem Vater scheint etwas nicht in Ordnung zu sein«, sagte er, nachdem er sich bei Franz für die Unterbrechung entschuldigt hatte. »Deine Mutter will unbedingt, dass du nach ihm siehst. Unten an der Stör. Am anderen Ufer.«
»Geh nur«, knurrte Franz, wobei er sich mit den faltigen Händen über die müden Augen fuhr. »Wir machen morgen weiter. Für heute ist Schluss.«
Der Junge dankte ihm höflich. Dann rannte er aus der Bibliothek und gleich darauf aus dem Kloster hinaus zum Ufer der Stör hinunter. Er lief über die Holzbrücke, die auf eine Insel hinüberführte, und hielt erst wieder an, als er deren südliches Ufer erreicht hatte, wo der alte Friedrich auf ihn wartete. Für den Jungen war der Fährmann schon immer da gewesen. Er gehörte zur Stör wie die Möwen, die Strömung und die Aale. Menschen setzte er in einem kleinen Kahn über, während er Pferde und Wagen auf einem aus Baumstämmen und Bohlen zusammengefügten |49| Floß beförderte, das er mit Hilfe kräftiger Stricke von einem Ufer auf die andere Seite hinüberzog. Die schwere Arbeit hatte seinen Rücken krumm und die Hände rau und schwielig werden lassen. Weißes Haar quoll unter seiner blauen Strickmütze hervor, und ein dünner Bart umrahmte seinen verkniffenen Mund.
»Da drüben am Waldrand«, sagte Friedrich, den die meisten Fiete nannten. Normalerweise war der Fährmann mürrisch, abweisend und wortkarg. Hinrik konnte sich nicht erinnern, jemals mehr als einen Satz von ihm gehört zu haben. Es musste etwas Ungewöhnliches vorgefallen sein, dass er sich nun zu mehr bereitfand. »Ich habe ihn auf seinem Pferd gesehen. Und es gab eine Rauferei.«
Das war alles, was ihm zu entlocken war. Auf weitere Fragen schwieg er verbissen und sah mit starrem Blick zum jenseitigen Ufer hinüber. So viel hatte der Fährmann zuletzt an jenem Tag geredet, als er seine Frau zu Grabe getragen hatte. Nach der Beerdigung hatte er reichlich Bier getrunken und alle dazu eingeladen, die er kannte und mochte. Der Alkohol hatte ihm die Zunge gelöst, und er hatte eine lange, umständliche Rede auf seine Frau gehalten, die unfruchtbar gewesen war und ihm keine Kinder geschenkt hatte, mit der dennoch alle Freuden genossen hatte, nach denen ihm der Sinn gestanden hatte. Hinrik erinnerte sich noch gut daran, dass man ihn immer wieder zum Kloster geschickt hatte, um weiteres Bier zu holen. So hatte er nicht der ganzen Rede folgen können, doch was er vernommen hatte, war anregend und aufregend genug für seine kindliche Fantasie gewesen. Dass der Fährmann an jenem Tag alles Geld ausgegeben hatte, das er in einem langen Leben zusammengespart hatte, interessierte ihn nicht. Er hatte einen Tag erlebt, der mit |50| tiefer Trauer begonnen und mit ausgelassener Fröhlichkeit geendet hatte, und das genügte ihm.
Hinrik gab es bald auf, Fragen zu stellen. Er wusste, dass er keine Antworten erhalten würde. Am anderen Ufer sprang er aus dem Kahn und lief sofort zu dem nur etwa zweihundert Schritte entfernten Waldrand hinüber. Schon von weitem konnte er Castor sehen, den Fuchs seines Vaters. Das Pferd stand mit tief herabhängendem Kopf neben einem Busch. Sein Vater lag auf dem Rücken und streckte Arme und Beine von sich. Seine Ritterrüstung hing hinter dem Sattel am Pferd. Der Bolzen einer Armbrust war ihm in den Rücken geschossen worden. Vorn auf der Brust, wo er mit verkrampfter Hand das Hemd geöffnet hatte, lugte die eiserne, gezackte Spitze heraus. Unter ihm hatte sich eine Blutlache gebildet.
Hinrik sank neben seinem Vater auf die Knie. »Was ist passiert?«, fragte er mit halb erstickter Stimme.
»Es war der Bronzene«, flüsterte der Sterbende. »Er hat mir alles Geld abgenommen. Alles. Es war eine erkleckliche Summe.«
»Der Ritter? Der bronzene Ritter?«
»Dieser Mann darf sich nicht Ritter nennen. Er hat nichts, was einen Ritter auszeichnet. Gar nichts.«
Friedrich vom Diek gehörte zu jenen Rittern, die im Süden und Westen des Reiches von Burg zu Burg zogen, um an Turnieren teilzunehmen oder ihre Kriegsdienste anzubieten. Auf diese Weise verdiente er mehr, als er den Bauern abnehmen konnte, denen er seinen Grund und Boden
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