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Der Blutrichter

Der Blutrichter

Titel: Der Blutrichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans G. Stelling
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Seine Füße brachen durch das dünne Eis und sanken tief in den weichen Boden ein. Er konnte sich jedoch an dem Schilf festhalten und sich Stück für Stück ans Ufer ziehen, ein schwieriges Unterfangen, da er die Halme nur dort anfassen durfte, wo die Blätter noch weich und nachgiebig waren. Oben waren sie hart |46| und hatten messerscharfe Kanten, an denen er sich unweigerlich die Hände zerschnitten hätte.
    Als er endlich festen Boden unter den Füßen hatte, war er vollkommen erschöpft und nass bis auf die Haut. Er spürte die schneidende Kälte. Am jenseitigen Ufer waren Stimmen zu hören. Es mochten Fischer sein, die sich an die Arbeit machten. Er wollte nicht, dass sie ihn sahen, denn er fürchtete, dass sie dem Grafen verraten könnten, wohin er geflohen war. Auf allen vieren kroch er über den Boden, bis er eine Mulde fand, in der er sich unbeobachtet eine Weile ausruhen konnte. Lange aber blieb er nicht, denn die lähmende Kälte kroch tief in seine Glieder. Er schleppte sich zu einem nahe gelegenen Wäldchen, wo er auf einen schmalen Pfad stieß.
    Eine Stunde später erreichte er eine Lichtung mit einer kleinen Hütte. Blaue Rauchwolken quollen aus einer Öffnung im Dach. Vor der Tür brach er zusammen. Es krachte vernehmlich, als er mit der Schulter gegen das Holz prallte. Mit schwindenden Sinnen erfasste er gerade noch, dass er sein angestrebtes Ziel erreicht hatte. Er war am Ende seiner Kräfte.
    Als er wieder zu sich kam, sah er in ein altes, von tiefen Furchen durchzogenes Antlitz, das von schlohweißem Haar umrahmt wurde. Blaue Augen funkelten ihn an. Der schmale Mund mit den faltigen Lippen war leicht geöffnet.
    »Spööntje«, stöhnte Hinrik. »Ich brauche deine Hilfe.«
    »Hohlkopf!«, antwortete sie zornig. »Hältst du mich für so dämlich, dass ich das nicht längst bemerkt hätte? Was glaubst du, was ich die ganze Zeit über tu, hä?«
    Erst jetzt merkte er, dass er nackt war. Die alte Frau hatte ihm Verbände angelegt. Die Heilkräuter, die sie verwendet hatte, brannten ein wenig in den Wunden.
    »Ich habe dir Johannisbeersaft in die Wunde auf der Stirn geträufelt«, fuhr sie mit heiserer Stimme fort. »Saft |47| von schwarzen Johannisbeeren. Das hilft gegen die Entzündung, aber du wirst für den Rest deines verhunzten Lebens eine dunkle Narbe auf der Stirn haben. Macht nichts, wenn ein so hübscher Kerl eine kleine Macke hat. Wahrscheinlich finden dich die Weiber damit noch interessanter als ohnehin schon. Wer hat dich so zugerichtet?«
    »Von Cronen, der Ratsherr aus Hamburg, und der Graf.«
    Das alte Gesicht wurde blass. Spööntje richtete sich auf und drückte sich ächzend die Hand in den Rücken. Sie hatte einen leichten Buckel, der ihr den Kopf tiefer herunterzwang, als ihr lieb war. In der rechten Hand hielt sie einen knorrigen Stock. Jedoch weniger, um sich darauf zu stützen, als »damit zu drohen oder im Dreck herumzuwühlen«, wie sie oft und gern betonte.
    »Du hast Glück, dass du noch lebst«, sagte sie über die Schulter hinweg, während sie zum Feuer schlurfte, um ein wenig Brühe aus einem Topf zu schöpfen, der an einem eisernen Bügel darüber hing. »Andere, die mit einer weniger kräftigen Natur ausgestattet sind als du, hätten sich in die Arme des Sensenmanns begeben. Drei Tage und zwei Nächte hast du hier gelegen wie eine Leiche. Wärst du nicht zu mir gekommen, hättest du längst deinen letzten Furz gelassen.«
    Sie drückte sich gerne derb aus. Er kannte sie seit vielen Jahren und hatte sie oft in ihrem Versteck im Wald besucht, wenn er heilende Kräuter für sich oder sein Gesinde benötigte. Ihm hatte sie stets geholfen. Vielleicht auch seinem Vater. Hinrik wusste nicht, wie oft dieser ihre Dienste in Anspruch genommen hatte. Nur einmal war er dabei gewesen, als sein Vater niedergestreckt worden war.
    Damals hatten die Künste der Heilerin nicht ausgereicht, dem Schicksal eine glückliche Wende zu geben. |48| Wollte man den Gerüchten glauben, die durch die engen, verwinkelten Gassen der Stadt Itzehoe huschten, strebte das Grafengeschlecht Schauenburg danach, seine Macht über die nördliche Grenze hinaus bis nach Dänemark auszudehnen, indem es sich Schleswig sicherte. Man schrieb das Jahr 1385, als die Mönche im Kloster zu Itzehoe davon erzählten und miteinander diskutierten, welche Folgen diese Veränderung für sie und die Stadt haben könnte. Wie nebenbei gratulierten sie Hinrik zu seinem dreizehnten Geburtstag, was kein Grund war, ihn für

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