Der Blutrichter
Häufig kaum zu erkennen und voller Unebenheiten, führten sie ihn buchstäblich über Stock und Stein, steile Hügel hinauf und in schroffe Täler hinab. Der Lauf war sowohl eine körperliche wie auch eine geistige Herausforderung, denn er setzte höchste Konzentration voraus. Die Sicht reichte oft nur wenige Schritte weit, und hinter jeder Biegung konnte ein gefährliches Hindernis lauern, ein umgefallener Baum oder in den Weg hineinragende Äste, deren |71| Enden abgesplittert und spitz und scharf wie Dornen waren.
Während die Sammler sich stets langsam fortbewegten, weil sie Ausschau nach allem hielten, was sich mitzunehmen lohnte, bemühte er sich, so schnell wie möglich zu sein, um nicht nur seine Ausdauer zu verbessern, sondern vor allem sein Reaktionsvermögen und seinen Gleichgewichtssinn. Er musste oft blitzschnell zur einen oder anderen Seite ausweichen, über knorrige Wurzeln oder umgestürzte Bäume springen, sich ducken, um unter einem Ast hindurchzutauchen, oder plötzlich stoppen, um nicht mit einem Sammler zusammenzuprallen.
Es machte ihm Spaß, sich diesen Herausforderungen zu stellen und sich an seine Grenzen heranzukämpfen. Immer wieder musste er einem Hindernis ausweichen, verfing sich in einer Wurzel, hatte mit Moos bedeckte Flächen zu überwinden, die nicht erkennen ließen, wie feucht und schlüpfrig der Boden unter der grünen Pflanzendecke war. Nachdem er ein paarmal gestürzt war, wurde er vorsichtiger und verringerte sein Tempo, um stets die Kontrolle zu behalten. Denn darauf kam es an. In seiner Fantasie malte er sich aus, dass er einen Kampf auf einem solchen Untergrund zu bestehen hatte. Wer unter diesen Bedingungen sicher auf seinen Füßen stand, hatte unbestreitbare Vorteile.
Als er an einem ruhigen Nachmittag in der Nähe der Flussbiegung einen steilen Hang mit einer moosbedeckten Mulde erreichte, blieb er stehen, um abzuschätzen, auf welchem Weg er die kritische Stelle am besten überqueren konnte. Dabei vernahm er ein verdächtiges Rascheln und Knacken wie von verdorrten Zweigen, die unter den Füßen eines Menschen oder eines großen Tieres brachen. Er wich vorsichtig zurück, bis er hinter einem Baum Schutz fand, und blickte sich suchend um. Nur das |72| Singen einiger Vögel und das Rascheln der Blätter in den Baumkronen waren zu hören. Als er schon glaubte, sich getäuscht zu haben, drang ein gequältes Stöhnen zu ihm. Er war sich sicher, dass jemand verunglückt war und nun Hilfe benötigte.
Lautlos schritt er über das Moos hinweg zu einigen dichten Holunderbüschen hin, wo er erschrocken stehen blieb. Keine zehn Schritte von ihm entfernt lag Felix bäuchlings auf dem Boden. Bruder Albrecht, der mit weit gespreizten Beinen hinter ihm kniete, hatte ihm den Rock bis zum Kopf hochgeschlagen und verging sich mit hochrotem Kopf an ihm. Albrecht war vollkommen verschwitzt und so berauscht von seiner Lust, dass er nicht bemerkte, was um ihn herum vorging.
Der Knappe unter ihm hielt die Augen geschlossen und hatte den Mund wie zu einem stummen Schrei geöffnet. Sein verkrampftes Gesicht ließ keinen Zweifel daran, dass er höchste Qualen litt, sich aber nicht zu wehren wusste.
Hinrik hörte es erneut knacken, und im gleichen Moment entdeckte er ein junges Mädchen, das keine zwei Schritte von ihm entfernt hinter einem anderen Baum stand und entsetzt beobachtete, was geschah. Gerade in diesem Augenblick wandte sie sich ihm zu, so dass sich ihre Blicke begegneten. Ihre Augen weiteten sich. Sie wollte sich und ihrer Angst mit einem Schrei Luft machen, doch er war gedankenschnell bei ihr und hielt ihr den Mund zu. Sie wehrte sich heftig und schlug mit Armen und Beinen um sich, während er sie wegzerrte.
»Leise, leise«, flüsterte er ihr zu. »Albrecht darf uns nicht sehen. Dem traue ich alles zu! Vielleicht bringt er uns um!«
Sie blieben stehen. Das Mädchen sah ihn mit großen Augen an, als würde es fürchten, Hinrik könne ein ähnliches |73| Spiel mit ihm treiben wie der korpulente Mönch mit Felix.
»Ich tu dir nichts«, beteuerte er. »Aber du darfst nicht schreien! Ich weiß nicht, wozu Albrecht in der Lage ist, wenn er uns bemerkt.«
Sie waren etwa zwanzig Schritte von dem Mönch und Felix entfernt, und er nahm seine Hand vorsichtig von ihrem Mund. Sie wich zurück.
»Bitte nicht schreien!«, wisperte er.
»Hinrik vom Diek«, stammelte sie.
»Genau der«, erwiderte er. »Und du bist Greetje Barg. Ich habe dich nicht vergessen. Dein Vater ist Arzt. Ich
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