Der Blutrichter
Körpertreffer zu erzielen.
Hinrik sah eine Chance, denn Christian war wie so häufig betrunken. Seine Freunde, die anderen Ritter, saßen auf Bänken vor der Schenke, sprachen dem Bier zu, machten derbe Witze, übertrafen einander mit obszönen Bemerkungen und feuerten ihn an.
Hinrik war müde und erschöpft. Er wollte nichts lieber als weiterzuschlafen. Die Aufgabe musste er deshalb so schnell wie möglich bewältigen. Genau das war sein Fehler, denn in seinem Übereifer lief er immer wieder in die Verteidigung Christians, ohne selbst Schläge setzen zu können. Verzweifelt rannte er gegen den Ritter an, bis seine Kraft nachließ und er die Arme kaum noch heben konnte.
»Nicht ein einziges Mal hast du getroffen«, stellte Christian fest und versetzte ihm einen Fauststoß vor die Brust, der ihn zu Boden warf. »Und das liegt daran, dass du keinen kühlen Kopf bewahrt hast. Du wolltest zurück zu den Flöhen und Wanzen im Stroh, anstatt dich ganz dem Kampf zu widmen. Du bist ein Dummkopf!«
Er wandte sich ab, um zu seinen Freunden zurückzugehen. Doch nun stürzte Hinrik sich auf ihn und hieb ihm mit den Fäusten in den Rücken. Erstaunt drehte Christian sich um, und bevor er sichs versah, versetzte der Junge ihm vier, fünf Hiebe. Der Ritter schüttelte unwillig den |69| Kopf und schlug zurück. Darauf war Hinrik vorbereitet. Er wich geschmeidig aus und traf zwei weitere Male. Jetzt war er so ruhig und gefasst, wie er von Anfang hätte sein müssen. Seine Müdigkeit war verflogen, und seine Muskeln waren plötzlich wieder stark. Die Schläge taten Christian zwar nicht wirklich weh, sie hätten ihn auch nicht aus dem Gleichgewicht bringen können, aber sie ärgerten ihn. So sehr, dass es Christian schließlich zu viel wurde. Er antwortete mit einem wuchtigen Kinnhaken, und Hinrik brach auf der Stelle zusammen.
Die anderen Ritter sprangen auf und beschimpften Christian. Einer von ihnen beugte sich über den Jungen, der ganz benommen war und nur allmählich wieder zu sich kam. Er half ihm auf die Beine.
»Der Kleine hat Mut und Geschick bewiesen«, stellte er fest. »Dafür hättet Ihr Höllenhund ihn loben, aber nicht verprügeln müssen.«
»Geh in den Stall und schlaf dich aus«, befahl Christian und fuhr sich verärgert mit den Händen durch das flammend rote Haar. »Wir reden morgen miteinander.«
Am nächsten Morgen waren Christian und einige andere Ritter verschwunden. Johann glaubte, sie wären irgendwo in der Stadt, um sich zu amüsieren. Weit konnte der Ritter nicht sein, denn der Wallach stand noch im Stall, und Hinrik kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er grundsätzlich nicht zu Fuß ging, wenn sich sein Ziel nicht in Nähe befand. Drei volle Tage verstrichen, bis die Ritter einer nach dem anderen wieder in der Burg eintrafen. Alle waren sie betrunken. Immerhin war einer von ihnen noch in der Lage zu berichten, dass sie die ganze Zeit über in der Brauerei gewesen seien. Als Letzter erschien der rote Christian. Schwankend schleppte er sich auf den Hof, um schließlich in seinem Zimmer ins Stroh zu fallen, wo er in eine Art Tiefschlaf verfiel, aus dem er |70| erst anderthalb Tage später wieder erwachte. Er erinnerte sich nicht mehr daran, dass er mit Hinrik über den Kampf reden wollte. Er war mit seiner Übelkeit und seinen Kopfschmerzen beschäftigt. Um sein Unwohlsein zu bekämpfen, leerte Christian einen großen Krug Bier. Dann befahl er seinem Knappen, den Wallach zu satteln, schwang sich auf den Rücken des Pferdes und ritt ohne ein erklärendes Wort davon.
Hinrik war froh, dass er den Ritter nicht begleiten musste. Der Unterricht bei Franz war für ihn inzwischen ausgesprochen spannend, und er machte sich voller Eifer daran, möglichst viel zu lernen. Der Mönch, der sich niemals über das Verhalten Christians äußerte, nickte anerkennend und sagte: »Wir wollen die Zeit nutzen.« Offenbar wusste er, dass Tage vergehen würden, bis Christian zurückkehrte.
Und so war es. Zwei volle Wochen verstrichen, und der Ritter war noch immer nicht wieder aufgetaucht. Hinrik genoss seine Abwesenheit. Er studierte jedoch nicht nur in der Bibliothek, sondern tat darüber hinaus einiges, um seinen Körper zu kräftigen. Manche Übungen machte er gemeinsam mit den anderen Knappen, bei anderen blieb er lieber für sich, wie etwa bei seinen Dauerläufen durch die Wälder. Er folgte den schmalen, vielfach gewundenen Pfaden, die von den Beeren-, Pilz-, Kräuter- oder Holzsammlern getreten worden waren.
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