Der Blutrichter
Turniere fanden grundsätzlich nicht in den kleinen Städten statt, sondern am Hof des Königs und der Herzöge.
Hinrik wusste nicht, weshalb Ritter wie Christian und die anderen nach Itzehoe gekommen waren. Sicher war, dass sie nicht gerade zur Elite ihres Standes gehörten. Am Hof des Königs gab es sicherlich Ritter, die ihnen in jeder Hinsicht weit überlegen waren und die ein ganz anderes Verhalten an den Tag legten als sie. Sein Vater hatte zu ihnen gehört. Er war für seine Dienste mit Ländereien belohnt worden. Von Männern wie ihm träumte Hinrik, und zu ihnen zog es ihn hin. Längst hatte er sich geschworen, den Norden früher oder später zu verlassen, um seine Dienste als Ritter dort anzubieten, wo dieser Stand zu Recht besser angesehen war.
Bis dahin würde noch viel Zeit vergehen. Vorläufig war er Knappe und noch viel zu jung, um zum Ritter geschlagen zu werden. Wenn es so weit war, würde Christian ihn zum Ritter erheben. Allein deshalb hoffte er, dass Spööntje ihn wieder ganz gesund machte.
Die bucklige Heilerin wollte kein Geld für ihre Dienste. Als Hinrik ihr die beiden Münzen geben wollte, die er in seinen Taschen gefunden hatte und die seinen letzten Besitz darstellten, hob sie drohend ihren Stock und zeigte ohne ein Wort der Erklärung nach draußen. Durch die offene Tür sah er einen Stapel Holz und begriff. Er ging hinaus, nahm eine Axt und begann damit, das Holz für den Ofen in der Hütte zu spalten, eine schweißtreibende |103| Arbeit, die seine Arme schmerzen ließ, doch sie tat ihm gut. Er konnte die in ihm aufgestaute Wut in die Schläge legen und Kraft tanken, die er dringend benötigte. Er war überrascht, wie sehr ihn die Ereignisse der vergangenen Tage geschwächt hatten und wie lange es dauerte, bis die Schmerzen in seiner Brust verklangen.
Spööntje sprach nur mit ihm, wenn sie ihn hereinrief, um ihm eine heiße, kräftige Suppe vorzusetzen oder ihn in den Wald zu schicken, um noch mehr Holz zu schlagen. Sie wusste, wo Bäume umgefallen waren und herausgeholt werden konnten. Gesundes Holz durfte er keineswegs angehen. Sonst würde es Schwierigkeiten mit dem Kloster in Itzehoe geben, das Eigentümer des Waldes war und streng darauf achtete, dass keine Bäume gefällt wurden. Lediglich was der Sturm zu Fall gebracht hatte, stand den Armen zur Verfügung. Allmählich erkannte er, dass die Heilerin klug und umsichtig gehandelt hatte. Durch sie kam er wieder zu Kräften, und schon bald zeichnete sich ab, dass er ihr nicht allzu lange zur Last fallen musste.
Nach drei Wochen harter Arbeit war er vollkommen wiederhergestellt. Sie hatte recht behalten. Die Narbe auf seiner Stirn, die er dem Ochsenziemer verdankte, blieb dunkel. Ein markantes Zeichen, dass er mühsam unter Locken verbarg.
»Du wirst nach Hamburg gehen«, sagte sie eines Abends, während sie einen Hasen über dem Feuer drehte, der ihr in die Falle gegangen war. »Weil von Cronen in dieser Stadt lebt. Aber ich warne dich. Die Stadt ist ein raues Pflaster, und mit den Kerlen dort ist nicht zu spaßen.«
»Woher weißt du das?«, fragte er. Ächzend massierte er sich die müden Arme.
»Ich habe Augen im Kopf«, erwiderte sie.
»Du warst in Hamburg?«
|104| »Ist nicht nötig. Ich habe die Schiffe gesehen, die über die Elbe und die Stör gekommen sind und die unten an der Schleife anlegen. Nicht alle werden an der Schleife be- oder entladen.«
Er stand auf und ging zu ihr. Das Feuer leuchtete in dem alten, faltigen Gesicht der Frau und ließ ihr Haar wie rote Flammen erscheinen, die um ihren Kopf züngelten. Ihre Augen waren dunkel und geheimnisvoll. Er fragte sich, was sie gesehen hatten.
»Was verbirgst du vor mir?«
»Du musst nicht alles wissen. Manchmal ist es besser, wenn man den Mund hält.«
»In diesem Fall nicht, Spööntje. Willst du mich ins Messer laufen lassen? Wenn etwas nicht stimmt, will ich darüber informiert sein. Also – heraus mit der Sprache.«
Sie zögerte lange, spuckte ein halbes Dutzend Mal vor sich auf den Boden, als wäre ihr die Galle des Hasen in den Mund geraten, und antwortete endlich: »Mir scheint, dass die Herren, denen die Schiffe gehören, vor allem aber auch die Besatzungen, das Licht des Tages scheuen. Jedenfalls lassen die Verletzungen darauf schließen.«
Sein Interesse verlor sich rasch, und er hörte kaum noch zu. Ob sich an der Schleife lichtscheues Gesindel herumtrieb oder nicht, war für ihn – wie er glaubte – ohne Belang. Und es war ihm egal, was
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