Der Blutrichter
wie aus dem Nichts wieder auftauchen ließ.
Hinrik nutzte jede sich bietende Gelegenheit, zu Greetjes Haus zu eilen. Er hoffte, Greetje würde herauskommen oder vom Einkauf zurückkehren. Vergeblich. Einige Male klopfte er an, doch sie öffnete nicht. Er schob ihr einen Brief unter der Tür hindurch, in dem er ihr seine Liebe gestand und sie bat, ihm zu verzeihen. Sie reagierte nicht darauf. Er wusste nicht einmal, ob sie den Brief überhaupt las.
Mehr als zwei Wochen verstrichen, ohne dass es ihm gelungen war, sie ein einziges Mal zu sehen. Seine Verzweiflung wuchs. Am liebsten hätte er die Arbeit im Hafen aufgegeben, weil sie ihn daran hinderte, am Tage zu Greetje zu gehen. Schließlich bat er Mutter Potsaksch, mit ihr zu reden und ein Treffen zu vereinbaren, damit er sich erklären konnte. Mitfühlend teilte ihm die alte Frau |230| am nächsten Tag mit, dass Greetje abgelehnt und zugleich gebeten hatte, er möge sie in Ruhe lassen.
In ihrer Haltung erinnerte ihn Greetje an das junge Mädchen von Itzehoe, das ihn schroff abgewiesen und über Jahre hinweg kein einziges Wort mit ihm gesprochen hatte.
Es war Anfang Juli, als plötzlich Unruhe im Hafen entstand, durch die die Arbeit empfindlich gestört wurde. Auslöser war Fieten Krai, der auf seine Weise verkündete, dass die »Silbermöwe«, eine Karavelle des Handelsherrn Gerhard Astmann, von Störtebeker gekapert und geplündert worden sei. Die Nachricht erregte höchste Aufmerksamkeit, da Astmann nach Wilham von Cronen der größte und wichtigste Handelsherr war. Er verfügte über eine Flotte von sieben Schiffen und wetteiferte mit seinem Rivalen um die Krone des erfolgreichsten und mächtigsten Hanseaten. Bisher hatte sich keiner der Freibeuter an die Schiffe von Cronens oder Astmanns herangewagt. Das hatte sich nun geändert, und die Nachricht löste einen wahren Aufruhr aus.
Die Kaufmannschaft empörte sich gegen Störtebeker und die Vitalienbrüder. Sie forderte die Hanse öffentlich auf, endlich etwas zu unternehmen, und sie hatte Erfolg. Aus seinem Kran heraus beobachtete Hinrik bereits am Nachmittag, dass Werber im Hafen erschienen, die zum Kampf gegen Störtebeker und die Vitalienbrüder bereite Männer anheuern wollten.
Derartiges hatte Hinrik noch nie erlebt.
In einer Pause verließ er den Kran und setzte sich auf ein Bierfass, um etwas zu trinken und ein Stück Brot zu essen. Breit grinsend ließ sich Fieten Krai neben ihm nieder. In seinen grauen Augen, die von buschigen Brauen beschattet wurden, funkelte es unternehmungslustig. Schelmisch schob er sich die bestickte Ledermütze in die |231| Stirn, indem er eine Hand in den Nacken legte und damit die Mütze anhob. »Ich mache es mal wie Ihr«, grinste er. »Ich verberge, was ich auf der Stirn habe.«
»Ich habe nichts zu verbergen«, behauptete Hinrik.
»Und tragt trotz der Hitze eine dicke Wollmütze.« Fieten Krai lachte. »Ich habe eine gute Idee. Ich werde Euch ein Lied widmen, in dem ich die Leute hier im Hafen frage, was wohl unter der Mütze und den blonden Locken zu sehen ist.«
Hinrik erschrak. Alles konnte er gebrauchen, nur nicht, auf diese Weise in den Mittelpunkt des Interesses zu geraten. Mit einem solchen Lied würde der Gaukler das Augenmerk auf seine schwarze Narbe lenken, und Hinrik würde die Frage zu beantworten haben, wo er sich die Narbe geholt hatte. Dann würde es nicht lange dauern, bis Wilham von Cronen wusste, wer er war.
»Lächerlich«, sagte er. »Mich interessiert etwas ganz anderes.«
»Nämlich?«
»Hat jemand den Vitalienbrüdern vielleicht einen Tipp gegeben, welchen Kurs die ›Silbermöwe‹ nimmt?«
»Ihr meint, jemand, der einen Vorteil hat, wenn die ›Silbermöwe‹ ihre Fracht nicht bis ans Ziel bringen kann?«
»Zum Beispiel!«
»Von Cronen hat unter Umständen einen Vorteil davon.«
Hinrik blickte Fieten Krai prüfend an, und er bereute, dass er dem Gespräch diese Wendung gegeben hatte. Was wusste er schon von diesem Gaukler, der viel herumkam und dabei mit zahllosen Leuten sprach, der recht freundschaftlich mit von Cronen verhandelt hatte, der Gräuelmärchen über Störtebeker verbreitete und der vielleicht ganz anders dachte, als er vorgab?
»Wollt Ihr damit sagen, dass von Cronen mit Störtebeker |232| zusammenarbeitet, um seinen Konkurrenten Astmann zu schwächen?« erkundigte sich Fieten Krai, und Hinrik meinte, ein eigenartiges Leuchten in den grauen Augen zu entdecken. Abwehrend streckte er eine Hand aus.
»Um Himmels willen –
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