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Der Blutrichter

Der Blutrichter

Titel: Der Blutrichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans G. Stelling
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verlassen hatte, um zu seinen Patienten zu eilen, doch sie spürte, dass die Wahrheit anders aussah. Ihre Kehle war so trocken, dass sie kein Wort mehr herausbrachte. Langsam schwang die Tür auf und gab den Blick |227| frei auf den Arzt, der totenbleich und mit weit geöffneten Augen auf dem Bett lag und keinerlei Lebenszeichen mehr von sich gab.
    »Vater!« Sie stürzte sich auf ihn, wurde aber in letzter Sekunde von einer solchen Scheu befallen, dass sie es nicht wagte, ihn zu berühren. Ihr war, als müsste ihr Vater sich schon im nächsten Moment bewegen. Doch er bewegte sich nicht. Er würde sich nie mehr bewegen. Er war tot.
    Auf dem Boden neben dem Bett lag ein beschriebenes Blatt Papier. Greetje sank langsam auf die Knie. Von Entsetzen und tiefer Trauer erfasst begann sie am ganzen Körper zu zittern und zu beben. Mit tränenverschleierten Augen hob sie den Brief auf.
    »Liebe Greetje«, las sie. »Es tut mir leid . . .«
    Sie kam nicht weiter. Haltlos schluchzend sank sie über den Leichnam und klammerte sich an ihn, als könnte sie das aus ihm gewichene Leben noch einmal zurückholen. Bereits diese ersten Worte bestätigten ihre schlimmsten Befürchtungen. Ihr Vater hatte sich das Leben genommen. Und damit gab er zu, dass er schuld war an Margaretas Tod.
    »Hinrik«, stammelte sie. »Warum hast du das getan? Es ist so sinnlos. Margareta konntest du nicht retten, und du kannst niemandem beweisen, dass von Cronen ein Mörder ist. Du hast nur eines erreicht – du hast unser Leben zerstört.«
     
    Vergeblich versuchte Hinrik vom Diek mit Greetje zu sprechen. Da seine Mittel so beschränkt waren, dass er ohne Verdienst nicht länger als ein paar Tage leben konnte, nahm er wieder Arbeit im Hafen an. Meister Kramer verübelte ihm, dass er sein Angebot zunächst abgelehnt |228| hatte. Er rächte sich, indem er ihn ans Seil schickte. Es war die niedrigste Arbeit, die es im Hafen zu erledigen gab. Sie war primitiv und schwer zugleich. Hinrik führte sie klaglos aus und wurde schon nach zwei Tagen belohnt. Hafenmeister Kramer hatte ein Einsehen. Er meinte, es sei notwenig gewesen, ihn ein wenig zurechtzustutzen, aber nun gehöre er wieder in den Kran, den niemand so gut bedienen könne wie er.
    Hinrik war froh. Obwohl er es nicht sagte, war er sogar dankbar dafür, dass er am Seil gearbeitet hatte, denn nun konnte er besser beurteilen als zuvor, was es bedeutete. Er versuchte, den Kran so zu lenken, dass die Helfer an den Seilen so wenig wie möglich belastet wurden. Sie merkten es schnell und dankten es ihm.
    So sehr Hinrik begrüßte, dass er arbeiten und somit Geld verdienen konnte, so sehr bedauerte er, dass ihm kaum Gelegenheit blieb, sich um Greetje zu bemühen. Die Nachricht vom Tod des beliebten Arztes hatte die Runde gemacht, und auch er hatte es noch vor der Beerdigung erfahren. Er wollte in die Kirche und zum Gottesacker gehen, um Hans Barg auf seinem letzten Weg zu begleiten, doch das ließ der Hafenmeister nicht zu. Er bestand darauf, dass er beim Kran blieb. Als er ihm androhte, er werde überhaupt nicht mehr für ihn arbeiten, konterte Kramer, in diesem Fall werde er – mit Wilham von Cronens Hilfe – dafür sorgen, dass er in Hamburg keinen Fuß mehr auf den Boden bekomme. Um zu vermeiden, dass Kramer den Ratsherrn auf ihn aufmerksam machte, beugte Hinrik sich. Widerwillig und mit mühsam unterdrücktem Zorn.
    Die Arbeit am Hafen begann meist vor Morgengrauen und ging bis in den späten Abend hinein. Seit Jahren war nicht mehr so viel zu tun gewesen wie jetzt. Die Wirtschaft der Hanse ließ sich nicht davon beeindrucken, dass |229| die Nordsee unsicher geworden war und dass dort Woche für Woche Schiffe überfallen und ausgeplündert wurden, während die Ostsee zu einem sicheren Meer geworden war.
    Störtebeker und seine Likedeeler waren in aller Munde. Die einen bewunderten sie ob ihrer Taten, andere verdammten sie dafür. Nach wie vor waren die Meldungen widersprüchlich. Während einige behaupteten, der Anführer der Freibeuter lege ein geradezu vornehmes Verhalten an den Tag und könne keiner Fliege etwas zu Leide tun, schworen andere Stein und Bein, dass er ein Mordbrenner war, der zahllose Seeleute eigenhändig geköpft habe.
    Diese Version vertrat auch Fieten Krai, der hin und wieder im Hafen auftauchte, seine Moritaten von den Seeräubern erzählte, Spottlieder auf die reichen Handelsherren Hamburgs sang und kleine Kunststücke vorführte, indem er jonglierte oder Münzen verschwinden und

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