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Der Blutrichter

Der Blutrichter

Titel: Der Blutrichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans G. Stelling
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Schwert zum tödlichen Streich erhob.
    Nie zuvor hatte er in solchem Schmutz gelebt. Die Gefangenen verrichteten ihre Notdurft in einen Bottich, der alle drei Tage geleert wurde. Zwei der Gefangenen mussten den gefüllten Behälter über die Steintreppe nach oben tragen, um ihn in ein Fleet zu entleeren. Aber der Bottich war viel zu klein, so dass er regelmäßig überlief. Es bildete sich eine stinkende Lache.
    Hinrik konnte diese Hölle aus Schmutz und Gestank, blutgierigen Insekten und allgegenwärtigen Ratten kaum ertragen. Die pure Verzweiflung ließ ihn einen Plan entwerfen. Er beschloss, den Bottich nach oben zu tragen, sobald dieser wieder voll war, und dann auszubrechen. Er fühlte sich stark genug, die Wachen zu überwinden, und er war sicher, dass er ihnen auch an Wendigkeit und Geschick überlegen war. Sollte sich beim ersten Mal keine |238| Gelegenheit ergeben, so konnte er den Moment immerhin nutzen, um die Situation auszuloten.
    Nachdem er diesen Entschluss erst einmal gefasst hatte, wartete er geduldig ab und bereitete sich sorgfältig auf den Ausbruch vor. Er wollte jede Chance nutzen.
     
    Mutter Potsaksch empfand Tage wie diesen als ausgesprochen angenehm. Sie liebte es über alles, barfuß zu gehen. Warme, trockene Tage mochte sie daher besonders. Als sie durch die Gassen lief und dabei die kleinen Fachwerkhäuser passierte, die eng nebeneinander standen, als müssten sie einander stützen, spürte sie die Wärme des Bodens unter ihren Füßen. Ihr war, als strömten die Kräfte aus dem Mittelpunkt der Erde in sie hinein, um sie mit neuer Energie zu erfüllen. Immer wieder suchte sie jene Stellen in den Gassen, die von der Sonne beschienen wurden, weil der Boden dort besonders warm war.
    So kam es ihr gelegen, dass die Sonne unmittelbar vor dem Haus des verstorbenen Arztes einen lichten Flecken schuf, auf dem sie stehen konnte, als sie an der Tür klopfte und darauf wartete, dass jemand öffnete. Es dauerte lange, bis Greetje Barg herausschaute.
    »Mutter Potsaksch«, grüßte sie überrascht. »Was führt Euch zu mir? Ihr seid doch nicht krank? Nein, nein, so seht Ihr nicht aus. Im Gegenteil.«
    Die alte Frau hob den Kopf und blickte in den blauen Himmel hinauf. Ein Schwarm Möwen segelte hoch oben über sie hinweg.
    »Es ist so ein schöner Tag«, seufzte sie. »Man sollte sich draußen an der frischen Luft aufhalten. Aber ich dachte, ein Besuch bei Euch könnte nicht schaden. Wollt Ihr mich nicht hereinbitten?«
    |239| »Natürlich. Gern.« Verlegen trat Greetje zur Seite. »Ich wollte nicht unhöflich sein. Verzeiht mir.«
    Kerzengerade schritt die alte Frau an ihr vorbei, um sich an den Kamin zu setzen, in dem schon seit Tagen kein Feuer mehr brannte. Sie legte die Hände in den Schoß. Vorwurfsvoll blickte sie die junge Frau an.
    »Ihr fragt gar nicht, wo er ist.«
    »Wer? Wen meint Ihr, Mutter Potsaksch?«
    »Dummes Ding! Tut nicht so, als ob Ihr nicht genau wüsstet, dass ich von Hinrik spreche. Wo ist er? Seit Tagen ist er nicht mehr nach Haus gekommen. Das kenne ich nicht von ihm. Ich war am Hafen beim Kran, aber da ist er nicht.«
    Greetje setzte sich ihr gegenüber auf einen Hocker, drehte den Kopf zur Seite und blickte auf ein Regal, auf dem eine Reihe von Tontöpfen mit Kräutern und Extrakten stand. »Ich weiß es nicht, und es interessiert mich auch nicht.«
    »Ach, Unsinn. Natürlich interessiert es Euch«, widersprach die alte Frau ihr. »Ich habe Hafenmeister Kramer gefragt, aber er hat mich abfahren lassen wie eine dumme Gans und gesagt, es gehe mich nichts an.«
    »Das ist seltsam.« Greetje schüttelte nachdenklich den Kopf. Sie erhob sich und begann damit, die Blumen zu gießen, die am Fenster standen. »Kramer und Hinrik haben sich immer gut verstanden.«
    Mutter Potsaksch schwieg eine Weile, zuckte dann mit den Achseln und stand auf, um zu gehen. »Vielleicht habe ich Kramer irgendwie gestört«, meinte sie. »Er unterhielt sich mit einer jungen Dame.«
    Sie sprach so zögerlich, dass Greetje verwundert fragte: »Dame? Was für eine Dame?«
    »Ich kenne sie nicht. Sie war sehr groß und stämmig.« Ihr zahnloser Mund verzog sich zu einem Lächeln. »Eigentlich |240| hatte sie ein riesiges Hinterteil. Wie ein Schlachtross. Und sie schielte. Aber der Stoff ihrer Kleidung war von kostbarer Qualität.«
    Greetje stutzte und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Das scheint mir eine ungewöhnliche Dame gewesen zu sein. War sie groß?«
    »Wenigstens anderthalb Köpfe

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