Der Blutrichter
hatte. Nun aber wollte sie sich von ihrem Vater so schnell wie möglich bestätigen lassen, dass alles in Ordnung war und dass er sich nichts vorzuwerfen hatte.
Sie ging durch den Raum, in dem er seine Patienten zu behandeln pflegte, in die Apotheke und suchte nach der Rezeptur für den Tee. Sie wusste genau, dass sie das Blatt Papier vor zwei Tagen zu einigen anderen getan und darauf geachtet hatte, dass es am richtigen Platz lag.
Es war nicht mehr da. Sie suchte alles ab. Vergeblich.
Sie hastete die Treppe hinauf und stieß die Tür zur Schlafkammer ihres Vaters auf. Hans Barg saß mit glasigen Augen auf dem Bett. In den Händen hielt er einen großen Bierkrug, den er bis auf den Grund geleert hatte. Dass der Alkohol bereits Wirkung zeigte, konnte sie ihm ansehen.
»Vater, was ist mit der Rezeptur für Margareta geschehen?«, fragte sie rundheraus.
»Ich habe sie verbrannt«, antwortete er mit schwerer Stimme. »Im Grab braucht sie keinen Tee mehr.«
»In dem Tee waren Extrakte von Fliegenpilz und Hüttenrauch enthalten«, sagte sie. »Beides sind Gifte. Ist Margareta von Cronen daran gestorben?«
Er ließ den Krug zu Boden fallen, und seine Augen füllten sich mit Leben.
|225| »Was redest du denn da?«, schrie er sie an. »Raus! Davon will ich nichts hören!«
Erschrocken gehorchte sie, blieb jedoch an der Tür stehen. Sie vernahm seine Schritte und das Schnappen des Türriegels, als er sich einschloss. Und kurz darauf war ein eigenartiges Schluchzen zu hören.
»Hinrik, was hast du uns angetan?«, kam es leise und stockend über ihre bleichen Lippen, als sie die Treppe hinunterging.
Am nächsten Morgen drang ein beruhigendes Schnarchen aus dem Zimmer ihres Vaters. Greetje nahm einen Korb und erledigte ihre Einkäufe. Ein strahlend blauer Himmel wölbte sich über Hamburg. Er verhieß wärmeres Wetter. Es schien, als wollte der Sommer bereits vorzeitig Einzug halten. Die Stimmung auf der Straße war heiter, und die Händler hatten einen Scherz, ein hübsches Kompliment oder einen frechen Spruch für sie parat. Greetje ließ sich anstecken und spielte manchen Ball auf die gleiche Weise zurück.
Allein der Gedanke an Hinrik vom Diek dämpfte ihre Stimmung ein wenig. Ob sie wollte oder nicht, er brachte ihre Gefühle durcheinander. Zu ihm fühlte sie sich hingezogen wie zu keinem anderen Mann, und das lag nicht nur daran, dass sie beide aus der gleichen Stadt stammten. Stets hatte sie sein Bild vor Augen – das kantige Gesicht mit dem energischen Kinn, den hellen blauen Augen, die so klar waren wie die See, und den blonden Locken, die ebenso neugierig wie widerspenstig unter der Wollmütze hervorquollen.
Störend war allein, dass er sich so energisch in eine Angelegenheit eingemischt hatte, die für ihren Vater und für sie mit solchen Schwierigkeiten verbunden war. Nach wie vor glaubte sie nicht daran, dass ihr Vater den Tee für Margareta von Cronen wissentlich so zusammengestellt |226| hatte, dass er sie schließlich getötet hatte. Ihr Vater war ein herzensguter Mensch. Sein einziger Fehler war, dass er hin und wieder für einige Tage oder manchmal sogar Wochen derart betrunken war, dass er nicht mehr ansprechbar war. In der Zeit aber, in der er nicht trank, war er der beste Vater, den sie sich wünschen konnte, und der beste Arzt der Stadt allemal. Keiner behandelte seine Patienten so einfühlsam und erfolgreich wie er. Keiner der anderen Ärzte erweiterte sein Wissen stetig, keiner von ihnen suchte wie er nach Neuerungen und Verbesserungen zu Gunsten der Patienten.
Ausgerechnet er sollte an einem Mordkomplott beteiligt sein? Es war geradezu absurd, so etwas anzunehmen.
Sie war sicher. Wenn sie nach dem Einkaufen nach Haus kam, würde ihr Vater nüchtern sein und ihr erklären, wie es zu Margaretas Tod gekommen war. Vor allem würde er klarstellen, dass er für ihr Ableben nicht verantwortlich war. Tee hin oder Tee her – der Trank war nicht die Todesursache.
Im Haus war es merkwürdig still.
»Vater?« Ihre Stimme fand keinen Widerhall. Sie setzte den mit Obst, Gemüse, Fleisch und Milch gefüllten Korb ab und stieg langsam die Treppe hinauf. Mit jeder Stufe schlug ihr Herz schwerer, und zugleich schien ihr die Brust enger zu werden. »Vater?«
Die Tür zu seiner Kammer war nur angelehnt. Sie zögerte lange, voller Angst, was sie sehen würde, wenn sie die Tür öffnete. Obwohl sie angestrengt lauschte, vernahm sie keine Atemzüge. Sie wollte es sich damit erklären, dass er das Haus
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