Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der blutrote Kolibri

Der blutrote Kolibri

Titel: Der blutrote Kolibri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo P. Lassak
Vom Netzwerk:
einige Kinder waren schon krank geworden, wie der Sohn seines Onkels. Nun suchten die Krokodilreiter nach dem Grund. Das war Natans Mission. Er sollte herausfinden, ob das flüsternde Volk etwas mit der Veränderung zu tun hatte.
    Ein aufgequollener Hirsch trieb an ihm vorbei, glotzte ihn aus toten Augen traurig an. Dabei zog er eine ölige, bunt schimmernde Spur hinter sich her.
    Natan sah zum Himmel. Es war eine selten klare Nacht. Sein Stamm bestimmte die Zeit nicht nach der Veränderung des Mondes, wie das flüsternde Volk es tat. Nach ihrer Rechnung war er etwa vierzehn Jahre alt. Krokodilreiter aber bemaßen die Zeit nach den Sternen, was weitaus komplizierter war. Die Menschen in Paititi waren machthungrig, streitsüchtig, grobschlächtig und dumm, solche komplizierten Rechnungen würden sie heillos überfordern.
    Eine von ihnen allerdings hatte Augen, die an seine Lieb lingssterne erinnerten. Beim Gedanken an sie wurde ihm warm ums Herz und er begann zu lächeln. Nur ihretwegen hatte er sich freiwillig für den Ritt ins Feindesland gemeldet.
    Der Häuptling hatte sich anfangs gesträubt, ihn alleine reiten zu lassen, seinen ältesten Sohn. Aber Natan kriegte ihn immer rum.
    Er hatte gehen müssen. Allein. Die Erinnerung an ihre Begegnung ließ ihn nachts wach liegen. Sternauge. Was für ein passender Name. Schöner konnte auch der nicht sein, mit dem ihre Eltern sie riefen.
    Und stolz war sie, das gefiel ihm. Den Fisch, den er für sie gefangen und als Geschenk an die Lagune gelegt hatte, hatte sie wieder in den Fluss geworfen.
    Sternauge gehörte zu den Feinden, die den Wald vor fünfhundert Jahren besetzt hatten. Mit Schwert und Zauberei hatten sie versucht, alle friedlichen Völker unter ihr Joch zu zwingen. Ein Stamm hatte sich in die Baumkronen zurückgezogen, sich die Fähigkeiten der Spinnen angeeignet. Sein eigener Stamm hatte Krokodile gezähmt und das nasse Element zu beherrschen gelernt. So sangen es die Alten in ihren Liedern nachts am Feuer.
    Die anderen drei Stämme waren bis auf den letzten Mann vom Inka und seinen blutrünstigen Kriegern niedergemetzelt worden. Wären die bleichen, augenlosen Wesen nicht zur selben Zeit im Dschungel aufgetaucht, hätte der Inka wohl auch noch die Krokodilreiter ausgerottet. Aber ihretwegen musste sich der Inka mit seinen Untertanen hinter den Mauern der Stadt verschanzen.
    Für das flüsternde Volk war der Wald ein Feind mit tausend Ohren. Sternauge gehörte zu ihnen, und doch erhitzte sich Natans Blut beim bloßen Gedanken an sie.
    Während Gator ruhig weiterschwamm, schloss Natan die Augen, um sich zu erinnern. Ihre Haut war von blasser Schönheit, ihre Lippen voll und sinnlich, ihr Haar schimmerte seidig. Und ihre Augen, ja, die Augen! Sie strahlten Stolz und eine Lebenslust aus, wie er sie beim Volk des Inka noch nie gesehen hatte. Natan hatte instinktiv gespürt, welche Kraft in dem Mädchen pulsierte. Er öffnete die Augen. Es war falsch, eine Feindin zu begehren, aber sein Herz hörte nicht auf ihn.
    Sie näherten sich Paititi. In exakten Abständen zueinander reihte sich Wache an Wache auf der Stadtmauer. Eine Unzahl von Augen, die den Wald absuchten. Gator behielt sein gemächliches Tempo bei. Natan schmiegte sich jetzt der Länge nach an den Rücken seines Reittiers. Von der Mauer aus würden die Wachen nur die Umrisse des Krokodils sehen können. Wenn sie überhaupt auf den Fluss schauten. Gefahr drohte ihnen eher aus den Baumwipfeln.
    Nun waren sie gleichauf mit der Stadt. Mit einem leichten Druck der Wade lenkte Natan Gator ans linke Flussufer. Nur zehn Mannslängen Wasser trennten ihn jetzt von der Mauer. Einen Moment lang wartete Natan eine Reaktion der Wachen ab. Als diese ausblieb, griff er nach seinem Kurzspeer und ließ sich von Gators Rücken in den Fluss gleiten.
    Â»Warte hier auf mich!«, flüsterte er.
    Das Krokodil schnaufte wie als Zustimmung durch die Nasenlöcher.
    Natan blinzelte die Tropfen von den Wimpern und zog sich an Land, ohne eine einzige Welle hinter sich zu lassen. Im nahen Gebüsch fand er Schutz. Er arbeitete sich vor, bis er gute Sicht hatte, ohne selbst aufzufallen.
    Lange Zeit still auf einem Fleck zu sitzen, war Natan gewöhnt. Oft lag er stundenlang auf der Lauer, bis das Beutetier sich in Wurfweite seinem Speer genähert hatte. Wenn er den Impuls spürte, ihn abzufeuern, verfehlte er niemals sein

Weitere Kostenlose Bücher