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Der blutrote Kolibri

Der blutrote Kolibri

Titel: Der blutrote Kolibri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo P. Lassak
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schlug einem der Männer ins Gesicht. Animaya kannte ihn, es war Chunta, der Tischler, Vater von vier kleinen Kindern.
    Â»Hast du nicht zwei Sack Kartoffeln in deiner Kammer vergraben?«
    Dem Mann lief Blut aus der Nase. »Ja, Herr …«, gab er stammelnd zu. »Es ist für Notfälle wie diesen, Herr, meine Kinder …«
    Kapnu Singa schlug ihn noch einmal.
    Â»Um dich bei deinem Inka zu entschuldigen, wirst du noch heute vier Sack Kartoffeln beim Kämmerer abliefern!«
    Der Tischler hielt sich die Wange. »Aber Herr, woher soll ich denn …?«
    Weiter kam er nicht. Kapnu Singa griff an die Seite seiner Rüstung und löste die Steinschleuder vom Riemen.
    Â»Bitte nicht, Herr!«, jammerte der Tischler.
    Seelenruhig streckte der Oberbefehlshaber seinen Zeigefinger aus. Der Stein, auf den er deutete, schwebte zu ihm.
    Chunta wurde kreidebleich, dann drehte er sich um und floh über den Platz. Die Generäle rührten sich nicht. Wozu auch Kraft vergeuden?
    Kapnu Singa holte aus, ließ die Schleuder drei-, viermal um seinen Kopf sausen und feuerte den Stein ab. Das Geschoss traf Chunta am Hinterkopf und verschwand in seinem Schädel. Wie ein Sack Mehl kippte er nach vorne. Seine Frau und die Kinder rannten leise wehklagend zu ihm.
    Â»Betrauert ihn nicht, der Mann war nichts wert«, höhnte Kapnu Singa. »Wer etwas vor dem Inka versteckt, bestiehlt sein Volk. Jeden von euch!«
    Dann, als wäre nichts geschehen, begann Kapnu Singa mit der Wiederholung der wichtigsten Gesetze. Alle sprachen gemeinsam mit.
    Wer laut redet oder lacht, dem wird die Kehle von einem Ohr zum anderen aufgeschlitzt. Denn er schadet seinem Volk, weil er es an die Feinde verrät.
    Animaya war es ein Rätsel, wie sie diese Zusammenkünfte früher genossen haben konnte. Jetzt widerte es sie nur an, wie alle das nachplapperten, was der oberste General ihnen im Namen des Inka vorbetete.
    Nein, nicht alle!, verbesserte sie sich selbst. Es gab immerhin eine kleine Gruppe Ungehorsamer, die Widerstand leisteten, indem sie beteten und im Mondschein badeten. Wenn Animaya ehrlich war, bestand die Gruppe bis auf Wisya nur aus zahnlosen Rebellen. Alten, Kastenlosen, Versehrten, Halb verhungerten.
    Animaya betrachtete aus dem Augenwinkel heraus die Menschen in ihrer Umgebung. Bei niemandem war so etwas wie Trotz oder Widerwillen zu sehen. Wisya und Vinoc jedenfalls flüsterten jedes Wort mit andächtigen Mienen nach. Ob sich noch mehr so verstellten? Wie viele gab es wirklich, die mit den Zuständen nicht zufrieden waren? Oder redeten ihr die beiden Alten das alles nur ein?
    Als Kapnu Singa eben zum siebten Gesetz anhob, wurde er jäh unterbrochen. Vier Wachleute stürmten auf den Platz. Eine Ungeheuerlichkeit! Das taten sie nur alle paar Monate, wenn …
    Animaya hielt sich erschrocken die Hände ans Gesicht. Die Wachen trugen ein Gestell aus Stangen in ihrer Mitte. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können, wer dort regungslos auf der Bahre lag.
    Animaya atmete auf. Es war auf jeden Fall nicht Perlenhaut. Es gab zu viele Tote in den letzten Tagen, um jeden zu beklagen. Einen Wimpernschlag lang nur war sie beruhigt. Dann aber bemerkte sie die weiße Haarsträhne, die unter dem Helm des Toten hervorlugte. In seiner Seite steckte ein Kurzspeer.
    Â»Wir haben ihn in der Lagune gefunden«, berichtete einer der Wachmänner aufgebracht.
    Entsetztes Raunen ging durch die Menge. Viele pressten sich die Fäuste vor den Mund. Kapnu Singa ließ die Bahre auf die Stufen tragen und sprach in dieser Zeit kein einziges Wort. Als Anaq nervös auf seiner Schulter von einem Bein aufs andere hüpfte, hob er gebieterisch die Hand. Der Kondor duckte sich ängstlich.
    Â»Dieser Mann hier ist für uns alle gestorben«, flüsterte der oberste Kriegsherr. »Er hat unsere Freiheit verteidigt, unsere Stadt beschützt, damit wir in der Nacht ohne Sorgen auf unseren Pritschen liegen können.«
    Kapnu Singa jagte Anaq mit einer groben Handbewegung von der Schulter und bückte sich. Mit einem Ruck zog er den Kurzspeer aus Milacs Fleisch und präsentierte ihn dem Volk. Die Spitze war rundum mit Krokodilzähnen als Widerhaken besetzt.
    Animaya schnürte es die Kehle zu, so gewaltig war die Macht der Bilder, die auf sie einstürzten. Zwei Jahre alte Bilder. Sie sah sich selbst von oben, wie ein kreisender Vogel seine Beute sehen

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