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Der blutrote Kolibri

Der blutrote Kolibri

Titel: Der blutrote Kolibri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo P. Lassak
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Gnade. Der Anblick von Sternauge hatte ihm für kurze Zeit die Sinne vernebelt, nun sah er wieder klar: Das waren keine Menschen, das waren Bestien!
    Ohne auf verräterische Geräusche zu achten, stürzte sich Natan durchs Gebüsch. Dafür würde er sie töten.
    Mit vereinten Kräften hatte die Gruppe das Wasser aus dem Becken abgelassen und dann die Seite mit der Maske an die Mauer gerückt, sodass niemand das Relief von Mama Killa sehen konnte. Milac war nicht mehr aufgetaucht. Und auch auf dem Rückweg, für den jedes Mitglied eine andere Gasse benutzte, begegnete er Animaya nicht.
    Zurück in der Kammer, rollte sie sich wie eine Farnknospe auf ihrer Pritsche zusammen, war aber viel zu aufgewühlt, um einschlafen zu können. Calico, zwei Kammern weiter, schnarchte.
    Vor all die beklemmenden Bilder in ihrem Kopf drängte sich immer wieder das des jungen Krokodilreiters. Wie er sie Sternauge nannte. Dass sie so oft an ihn dachte, verstörte Animaya. Noch immer wusste sie nicht, was das war, ein Stern. Es funkelte, so viel hatte er ihr verraten. Und der Name, den er ihr gegeben hatte, klang so wunderbar: Sternauge.
    Animayas Magen verkrampfte sich. Um sich vom Hunger abzulenken, entschloss sie sich, auch dem Fremden einen Namen zu geben. Sie konnte ihn in Gedanken ja schlecht immer nur er nennen.
    Doch was passte zu ihm, dem Feind? Wie gerne hätte sich Animaya jetzt gemeinsam mit einer Freundin einen Namen ausgedacht. Kichernd unter einem Baum gesessen. Aber beide waren fort. Pillpa im Tempel, Nawi im Harem. Ihnen wären bestimmt sofort lauter Ideen gekommen.
    Animaya vermisste sie unendlich.
    Kurz nacheinander kehrten Vinoc und Wisya nach Hause zurück. Bald schnauften sie gleichmäßig, wie alte Leute es im Schlaf taten.
    Zarthand? Seine schmalen Glieder waren Animaya besonders im Gedächtnis geblieben. Nicht schlecht, aber auch noch nicht richtig gut. Und für einen Feind klang es ein bisschen zu vertraut.
    Feuchthaar? Wohl zu anzüglich. Pillpa hätte ihre Freude daran gehabt.
    Perlenhaut? Die Wassertropfen auf seiner Brust hatten so herrlich geschimmert. Ja, Perlenhaut passte! Außerdem war es neutral genug. Nur eins war klar: Falls sie sich irgendwann einmal zufällig wiedertreffen würden, durfte er auf keinen Fall etwas von seinem Spitznamen erfahren. Vorausgesetzt, er überlebte diese Nacht. Kapnu Singa würde ihn doch hoffentlich nicht finden, oder?
    Wie als Antwort auf ihre stille Frage durchschnitt ein ohrenbetäubender Schrei die Nacht. Es klang so, als wollte jemand den ganzen Wald darauf aufmerksam machen, dass ihm gerade das Herz durchstochen wurde.
    Animaya bekam für die nächsten Stunden kein Auge zu. Mit klappernden Zähnen warf sie sich auf ihrer harten Bettstatt hin und her, bis sie am Morgen endlich das erlösende Krächzen der Papageien hörte.
    Als sie wenig später bleich und ungewaschen zum Appellplatz wankte, stand Kapnu Singa bereits auf den Stufen, Anaq wie einen todbringenden Schatten auf der Schulter. Der Kondor sah mitgenommen aus, er röchelte merkwürdig und sein Hals war von altem Blut verklebt.
    Unter den kritischen Augen der Generäle reihte sich Animaya ohne großen Enthusiasmus in die Formation aus Menschenleibern ein, gerade noch rechtzeitig. Vor den Toren des Palastes wurde in diesem Moment die Sänfte des Inka abgestellt. Ob Tupac selbst hinter den Vorhängen lag oder ein Stellvertreter oder ob die Liege darin völlig leer war, wusste niemand. Jeder aber hielt sich noch aufrechter als sonst, als würden die Augen des Sonnensohns gerade auf ihm ruhen.
    Wann würden sie ihnen mitteilen, wer in der Nacht geschrien hatte? Sofort? Nie?
    Â»Das flüsternde Volk lügt nicht, stiehlt nicht und ist nicht faul!«, begrüßte Kapnu Singa die Untertanen.
    Alle wiederholten den Satz wie aus einem Munde.
    Â»Die Spenden aus dem Volk haben den großen Speicher wieder füllen können«, verkündete Kapnu Singa mit einem kalten Lächeln. »Aber wo ein Haus voll wird, da können auch zwei gefüllt werden. Bis morgen erwartet Tupac, der gottgleiche Inka, weitere Spenden von euch. Ich weiß, jeder hat noch geheime Vorräte. Vielleicht unter der Holzpritsche?«
    Der Oberbefehlshaber betrachtete die erste Reihe mit sei nen pechschwarzen Obsidianaugen. Da ihnen die Pupille fehlte, war es meist schwer zu sagen, wen er gerade ansah. Plötzlich sprang er vor und

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