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Der blutrote Kolibri

Der blutrote Kolibri

Titel: Der blutrote Kolibri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo P. Lassak
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ändern.
    Jedes Mal, wenn er von nun an zum Inka in den Palast gerufen wurde, um über die Maisvorräte Rechenschaft abzulegen, beobachtete er die vierzehn Yatiri.
    Auch zwischen heiligen Männern, so vermutete der Vater, müsste es eine Rangfolge geben. Nach vielen Monaten hatte er endlich den Yatiri an unterster Stelle der Hackordnung ausgemacht. Sein Können war am geringsten und die anderen dreizehn hatten ihn schon mehrfach in Anwesenheit des Inka verspottet.
    Der Vater sprach ihn an. Er bot ihm die Visionen seiner Tochter im Tausch gegen dessen Hilfe. Bilder über kommende Ereignisse, die der Magier dem Herrscher als Weissagungen auftischen konnte, gegen einen Neuanfang für sein geliebtes Kind.
    Gekränkt, wie er war, schlug der Magier ein. Und so wurde er zum zweiten Menschen im Leben der Heranwachsenden – da war sie sieben.
    Zunächst ging es dem Yatiri so wie dem Vater sieben Jahre zuvor. Er kam nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ, und lehrte das Mädchen seine Hexereien. Bei jedem Besuch beeindruckten ihn aber die Klugheit und das Geschick seiner Schülerin immer stärker. Die roten Augen entlockten ihm keine Furcht mehr, sondern es faszinierte ihn, wenn ihr Blick aufmerksam seinen Händen folgte. Nun erschien er im Haus des Kämmerers, wann immer er freihatte. Der Ehrgeiz, die Lehrmeinung zu widerlegen, dass eine Frau für die weiße Magie gänzlich ungeeignet sei, trieb ihn genauso an, wie die Zuneigung zu dem Kind.
    Langsam wurde der Vater eifersüchtig, er forderte vom Magier, dass er endlich das tun solle, wofür er ihn geholt habe: das Aussehen des Kindes zu verändern. Doch diesen Zauber konnte das Mädchen nur selbst ausführen …«
    Wisya stoppte mitten im Satz. Bisher hatte sie tonlos gesprochen, ohne Emotionen in die Worte hineinzulegen. Ganz so, als hätte sie die Geschichte eines anderen Mädchens erzählt, deren Ausgang sie nicht das Geringste anging. Jetzt aber entfuhr ein Schluchzer ihrer Brust.
    Â»Niemand kann jemals nachvollziehen, wie sich das Mädchen bei seinem ersten Gang durch Paititi gefühlt hat.«
    Animaya vermutete natürlich längst, dass das unglückselige Mädchen aus der Geschichte mittlerweile erwachsen war und neben ihr saß. Sie hob den Kopf – und erschrak.
    Wisya zeigte sich in ihrer wahren Gestalt, einer etwa vierzigjährigen Frau. Ihre Haare fielen in weißen Locken fast bis zum Boden, ihre Haut war bleich wie Milch, durch die sich die Adern wie blaue Schlangen wanden. Die roten Augen stachen wie Rubine aus dem knochigen Gesicht hervor. Und doch jagte ihr Anblick Animaya keine Angst ein wie am Morgen des Festes. Als eine Träne schimmernd über Wisyas Wange rollte, empfand sie vielmehr tiefstes Mitleid.
    Â»Du veränderst also jeden Morgen deine Gestalt?«
    Wisya schüttelte den Kopf. »Nein, ich bleibe immer, wie ich bin. Aber mein Zauber beeinflusst die Wahrnehmung der Betrachter. Für sie wirke ich wie ein altes, gebeugtes Weib.«
    Animaya nickte. »Erzähle mir mehr über deine Magie. Kannst du alles, was Kapnu Singa auch kann? Nebel heraufbeschwören, in Köpfe und Herzen hineinschauen, Menschen durch die Luft schleudern?«
    Wisya lächelte mit schmalen blauen Lippen. »Ich kann weniger und mehr«, antwortete sie sanft. »Mein Lehrer brachte mir nur die weiße Magie bei, alles Dunkle, Gefährliche hielt er von mir fern. Und mein Vater unterrichtete mich darin, die Dinge hinter den Dingen zu sehen, mich auf mein Gefühl zu verlassen, so wie er hinter dem abstoßenden Äußeren des Hexenbalgs seine Tochter sah. Der Yatiri zeigte mir nachts die verbotenen Plätze im Wald, die Wak ’ a. Doch bevor er meine Ausbildung beenden konnte, machte er einen verhängnisvollen Fehler. Er erzählte das, was mir die Toten von der Goldenen Maske berichtet hatten, dem Inka. Seitdem hat ihn niemand mehr gesehen …«
    Sie schwieg einen Augenblick, dann fuhr sie mit ernster Miene fort: »Obwohl mich nun äußerlich nichts mehr von den anderen Jungfrauen unterschied, war ich doch keine von ihnen. Mir fehlte die Ausbildung im Haus der Gesetze. So war mein Blick auf Paititi nicht von den hohlen Worten des Inka verschleiert. Von Anfang an machte mich die Ausbeutung unseres Volkes wütend. Die öffentlich verhängten Strafen, die alle Einwohner gefügig machten. Die Gewalt, die ungleiche Verteilung von Mais

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