Der blutrote Kolibri
musste. Mit glühenden Wangen setzte sie sich wieder zu Wisya.
»Kam sie auch in die Maisminen?«, fragte Animaya voller Hoffnung. »Dann lebt sie vielleicht noch! So rede doch!«
Sie packte Wisya unsanft an den Schultern und schüttelte sie wie einen nassen Sack. Die Yatiri lieà es ohne Gegenwehr geschehen.
»Sie ist im Kampf für unsere Freiheit gestorben, das habe ich dir doch schon gesagt.«
Animaya schäumte vor Wut. Ihr Herz raste, da war er, der Moment, auf den sie so lange gewartet hatte. Sie hatte einen Hinweis auf ihre Mutter bekommen, einen Splitter nur, aber er fügte ein paar Teile ihres Bildes zusammen.
»Damit gebe ich mich nicht zufrieden, nach all dem, was du mir erzählt hast. Was ist mit ihr passiert?«
»Sie ereilte ein anderes Schicksal. Kapnu Singa brachte sie zum Inka in den Palast. Mehr weià ich nicht, wirklich nicht!«
Animaya wollte scharf widersprechen, wollte in die Nacht hinausbrüllen, dass sie ein Anrecht darauf habe, alles über ihre Mutter zu erfahren. Dass sie selbst entscheiden könne, ob sie die gefährliche Wahrheit wissen wolle oder nicht. Aber Wisya schob ihr urplötzlich die Hand über den Mund.
Sie lauschten. Schritte. Das leise Reiben von Gürteltierpanzer an Gürteltierpanzer. Ein Mann trat aus dem Schatten der Gasse ins Mondlicht. Ein Mann mit einem Kondor auf der Schulter: Kapnu Singa.
Mit entschlossener Miene eilte er auf die Quelle zu. Animaya riss entsetzt die Augen auf. Wisya gab ihren Mund wieder frei und zog rasch den Kohlestrich um sie herum nach.
Keine drei Schritte von ihnen entfernt blieb Kapnu Singa stehen. Mit seiner vernarbten Hand schob sich der oberste General den Helm in den Nacken und musterte den Platz rund um das Bassin. Anaq kreischte wild, etwas schien den Kondor zu beunruhigen. Er warf den nackten Kopf hin und her und schnappte in der Luft nach Zikaden.
Animaya stieg Kapnu Singas Geruch in die Nase â wie nach altem Schweià und Blut â und ihr Magen krampfte sich zusammen. Kann er uns wirklich nicht sehen?, fragte sie sich angstvoll.
Der General blähte die Nüstern wie ein witterndes Lamagua. Dann drehte er den Kopf und starrte Animaya direkt in die Augen.
Animaya zuckte heftig zusammen. Wieder spürte sie, wie sich seine unsichtbaren Krallen in ihr Innerstes bohrten.
Was sollte sie tun? An den Inka denken? Nein, das würde ihr jetzt nicht helfen. Sie durfte an überhaupt nichts denken.
An Kapnu Singa vorbei fixierte sie den Mond und versank in dem Bild seiner silbrigen Oberfläche. Alle Angst und die Wut fielen von ihr ab wie welke Blätter von einem toten Baum.
Der Oberbefehlshaber stand lange Zeit wie versteinert da. Dann schlug er mit der flachen Hand aufs Wasser und stampfte zornentbrannt davon.
Noch eine ganze Weile wagte Animaya nicht zu atmen. Als auch die letzten Schritte an den Mauern der Häuser verhallt waren, sprang sie aus dem Kohlekreis.
»Es ist besser, wenn ich gehe. Du hast jahrelang über meine Mutter gelogen. Wie soll ich dir je wieder vertrauen?«
Wisya richtete sich auf. »Warte!«, flehte sie mit brüchiger Stimme. »Ich konnte dir nichts sagen, du warst doch noch ein Kind!«
Animaya schnaubte verächtlich. »Und warum sagst du mir jetzt, dass sie gestorben ist? Meinst du, das tut nicht weh?«
Sie wandte sich ab und wollte gehen, aber ihre FüÃe verharrten auf der Stelle. Als Animaya an ihren Beinen hinuntersah, waren Schlingpflanzen aus dem Pflaster gewachsen und ringelten sich an ihren Schenkeln empor.
»Ist das alles, was du draufhast?«, spie sie der Yatiri entgegen. Tränen der Wut und der Enttäuschung liefen ihr über das Gesicht. »Was wollt ihr eigentlich von mir? Seid ihr nicht stark genug, was immer ihr vorhabt, auch allein durchzuziehen?«
Wisya baute sich vor ihr auf. Einen Augenblick lang befürchtete Animaya, ihre Nachbarin würde sie für ihre gemeinen Worte strafen. Aber in ihren roten Augen war kein Hass.
»Ich habe schon seit Langem Visionen, dass du bei der Befreiung unseres Volkes eine wichtige Rolle spielen wirst«, wisperte Wisya auf Höchste erregt. Sie sprach so schnell, dass Animaya ihren Worten kaum folgen konnte. »Nun mehren sich auch die Zeichen von auÃen, dass die neue Zeit anbricht. Tote Tiere treiben im Fluss. Die Albinas sind in Aufruhr! Milac wollte uns über Beobachtungen im Norden des Waldes berichten und starb auf seltsame
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