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Der blutrote Kolibri

Der blutrote Kolibri

Titel: Der blutrote Kolibri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo P. Lassak
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an die Kasten. Das Los der Frauen, die vom Inka nach Belieben eingesammelt werden konnten wie die saftigsten Früchte eines Baumes.
    Als mein Haremsfest kam, versteckte ich mich vor den Generälen im Nebel meiner Magie. Ich schwor, die Zustände durch meine Kräfte zu ändern, aber erst, wenn ich mehr über die alten Götter erfahren hatte. Als mein Vater vor vierzehn Jahren starb, baute ich sein Haus zu einer geheimen Schule um. Dort scharte ich Frauen jeden Alters um mich, baute eine Gruppe auf, während Tinku Chaki die Männer unterwies. Ein Teil meines Wissens gab ich an sie weiter und ließ die Erinnerung an die alten Götter neu aufleben, besonders an Mama Killa. Meine Vision war ein neues, besseres Reich, mehr Rechte für uns alle, aber ich war zu ungeduldig.«
    Wisya legte den Kopf schief. »Damals war noch Manqu unser Inka, musst du wissen. Und Versammlungen waren erlaubt. Vieles wurde erst in den letzten Jahren verboten, woran ich nicht ganz unschuldig bin.« Sie seufzte tief. »Wir wurden verraten. Eines Nachmittags, als alle Frauen unserer Gruppe beisammensaßen, stürmten Generäle das Haus meines Vaters. Keine von uns entkam, nur mir gelang es rechtzeitig, Nebel um mich zu weben.«
    Â»Und so musstest du tatenlos mit ansehen, wie alle grausam bestraft wurden!« Animaya konnte sich vorstellen, wie dieser Überfall ausgegangen war. Auch wer das Falsche sagte, bekam die Kehle von einem Ohr zum anderen …
    Wisya lachte gallig. »Oh nein, dafür war der junge General, der den Überfall leitete, viel zu gerissen. Er wusste genau, dass sich so viele Frauenleichen schlecht erklären lassen würden. Stattdessen hatte er einen viel hinterhältigeren Plan. All diese Frauen wurden auf der Stelle in den Wald geleitet, um Blätterstreu für das Gehege der Göttertiere zu sammeln. Niemand hat je wieder etwas von ihnen gehört. Der junge General verkündete, eine Horde Spinnenmenschen habe sie attackiert, in ihre Netze gezogen und dann ausgesaugt. Das gab ihm endlich einen Anlass, den Inka zu Vergeltungsangriffen zu überreden – was im Ersten der Drei Spinnenkriege gipfelte. Dort verdiente sich der junge General nicht nur das uneingeschränkte Vertrauen des Inka, sondern durch eine seiner vielen Verletzungen auch den neuen Namen: Kapnu Singa. In Wirklichkeit aber kamen die Frauen auf Lebenszeit in die Maisminen. So wie die gefangenen Spinnenmenschen.«
    Â»Maisminen? Was ist das?«, platzte Animaya heraus. »Ich habe nie davon gehört.«
    Schallendes Lachen war die Antwort. »Das meine ich mit Die-Augen-Öffnen. Wie, glaubst du, lässt sich ein Volk unserer Größe mitten im Dschungel ernähren? Indem ein paar Jungfrauen Früchte sammeln? Indem ein Jäger einen Flughund schießt?« Wisya lachte abermals auf, aber es klang nicht beleidigend, sondern voller Abscheu über die herrschenden Zustände. »Auch Ungehorsame sind für das Volk zu wertvoll, um sie einfach umzubringen. Schon vor Hunderten von Jahren wurden sie aussortiert, um unterirdische Stollen anzulegen. Die Züchter der Lamaguas entwarfen auch Maispflan zen, die kein Sonnenlicht zum Wachsen benötigen. Sie ge deihen in völliger Dunkelheit. Gefangene bauen den Mais an und ernten, ohne die Sonne auch nur einmal zu sehen …«
    Wisya drehte den Kopf, sodass der Schatten ihres Profils auf das Steinbecken fiel.
    Animaya holte tief Luft. Alles, was Wisya erzählte, klang wie eine Legende. Voller Gefahren und Geheimnisse. Aber all das hatte doch wohl nichts mit ihrem eigenen Leben zu tun, oder?
    Â»Ich wünsche euch Glück«, sagte sie leise. »Aber zählt nicht auf mich. Alles, was ich will, ist meine Lamaguas pflegen und ansonsten meine Ruhe. Ihr nennt mich seit ein paar Tagen erwachsen, aber ich fühle mich nicht so. Auch nicht wie ein Kind. Ich bin irgendwie … so unfertig … Damit bin ich genug beschäftigt.« Animaya versuchte, den Kloß in ihrem Hals herunterzuschlucken, der wie aus dem Nichts dort entstanden war. »In ein paar Jahren vielleicht.«
    Sie stand auf und wollte schon über den Kohlestrich steigen, da sagte Wisya: »Deine Mutter war eine von uns.«
    Â»Meine Mutter?« Animaya war es, als hätte Wisya ihr eine schallende Ohrfeige verpasst. Die Härchen auf ihren Armen stellten sich auf. »Eine von euch?« Und mit einem Mal dämmerte ihr, was das bedeuten

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