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Der blutrote Kolibri

Der blutrote Kolibri

Titel: Der blutrote Kolibri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo P. Lassak
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presste sich ein Tuch vor den Mund, um den Gestank zu dämpfen. Als General war er schon häufig Zeuge von unendlichem Leid gewesen, das ahnte Animaya. Daran gewöhnt hatte er sich aber offensichtlich nicht. Nach dem anfänglichen Schock schien sich Vinoc auch jetzt noch nicht wieder vollständig unter Kontrolle zu haben. Trotzdem begann er, den Platz des tödlichen Schauspiels zu analysieren.
    Â»Ungewöhnlich breite Wunden«, bemerkte er tonlos. »Verwüstete Gesichter. Anscheinend war jemand sehr, sehr wütend.«
    Vinoc fasste einen der beiden Generäle an der Schulter und drehte ihn zur Seite. Animaya stieß einen spitzen Schrei aus. Im ersten Moment hatte sie geglaubt, der Mann hätte gestöhnt, aber ihm war nur der Unterkiefer abgefallen. Ein Tausendfüßer schlängelte sich aus den Resten seiner Kehle.
    Â»Dacht ich mir’s doch«, murmelte Vinoc. »Die Schwerter stecken noch in ihren Scheiden. Entweder die Opfer wurden von den Angreifern völlig überrumpelt, vielleicht mitten in der Nacht …«
    Â»Oder?«
    Â»â€¦Â oder der Gegner war so mächtig, dass sie keinen Sinn darin sahen, die Waffen zu zücken.«
    Animaya nickte und deutete auf die beiden ausgestreckten Toten. »Deine zweite Theorie würde auch die Verletzungen an ihren Rücken erklären. Die Männer haben versucht zu flie hen, statt zu kämpfen. Krieger, von Kindesbeinen an auf Kampf und Tod gedrillt. Wer hat die Macht, sie so in Panik zu versetzen?«
    Falls Vinoc bereits eine Ahnung hatte, ließ er sich nichts anmerken.
    Voller Entsetzen wurde Animaya gewahr, dass die Mörder noch in den Büschen um sie herum auf der Lauer liegen konnten. Sie sah sich hektisch um, aber Vinoc schüttelte den Kopf. Er bückte sich und riss ein zartes Pflänzchen aus. Roter Mais!
    Â»Das Korn hat schon gekeimt. Der Angriff ist acht Tage her, höchstens zehn – was mit der erwarteten Ankunftszeit der Karawane übereinstimmen würde.«
    Animaya schluckte. »Wäre sie pünktlich gekommen, hätte Tupac mit den Adeligen am Haremsfest sein Volk im Stich gelassen. Meinst du, jemand wollte das verhindern, jemand, der Bescheid wusste? Wenn ich es richtig sehe, kämen dann nur zwei Gruppen infrage: putschende Generäle und Wesen, die die Zukunft kennen …«
    Â»Albinas?« Vinoc wiegte nachdenklich den Kopf. »Ihre Klauen wären zu diesen Wunden fähig. Aber warum sollten sie so brutal vorgehen?«
    Â»Wieso nicht?«
    Vinoc legte Animaya seinen Arm auf die Schulter. Er wog schwerer als ein Sack Mais. »Wie du weißt, hat meine Frau ein besonderes Verhältnis zu den verdammten Seelen. Sie geistern durch den Wald und heben alle achtundzwanzig Tage zu ihrem Klagegesang an. Und wenn sie einem Trupp skrupelloser Krieger gegenüberstünden, würden sie ihn, ohne zu zögern, in die Knie zwingen. Aber wer sagt, dass die Albinas nicht dem Menschen helfen, der sie ernsthaft und voller Demut darum bittet? Meiner Frau haben sie das Leben gerettet.«
    Â»Wisya war damals nur ein Baby!«, widersprach Animaya.
    Vinoc lachte. »Umso leichter, sie umzubringen«, spottete der General. »Vergiss, was du im Haus der Gesetze gehört hast. Die Albinas lauern keinem Unschuldigen auf, auch wenn sie uns Menschen hassen. Wir sind gezwungen zu flüstern, weil der Inka sein Volk auf diese Weise kontrollieren kann. Welche Macht könnte größer sein, als Stimmen zum Schweigen zu bringen?«
    Animaya zeigte angewidert in die Runde. »Die Macht, die das hier angerichtet hat. Dieses sinnlose Morden …«
    Â»Nein! Dahinter steckt ein Sinn, auch wenn wir ihn nicht durchschauen. Das Ziel des Angriffs waren die Menschen – siehst du auch nur ein getötetes Lamagua?«
    Tatsächlich, warum war Animaya das bisher nicht aufgefallen? Kein Mensch war der Attacke entkommen, aber alle Lamaguas. Sicher, die Göttertiere waren zäh und wendig, doch mit der schweren Last auf dem Rücken wohl kaum in der Lage, vor einer Handvoll hysterischer Albinas zu fliehen.
    Oder war es doch das Werk Goliaths? Des Wesens, dessen Ankunft die Goldene Maske prophezeit hatte? Das sogar Kapnu Singa Angst einflößte und den Inka dazu brachte, Paititi und alle seine Einwohner zurückzulassen? Hatte Goliath die Albinas wie auch immer zu seinen Verbündeten gemacht und auf die Menschen gehetzt? Als kleinen Vorgeschmack auf

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