Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der blutrote Kolibri

Der blutrote Kolibri

Titel: Der blutrote Kolibri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo P. Lassak
Vom Netzwerk:
kommende Qualen?
    Animaya blieb noch ein paar Minuten auf dem Platz stehen und horchte in sich hinein. Die Ereignisse überrollten sie mit einer solchen Geschwindigkeit, dass ihr keine Zeit blieb, sie auch nur halbwegs zu verarbeiten. Vor wenigen Tagen noch war sie ein normales Mädchen, eine treue Untertanin gewesen. Das Auftauchen des Kolibris hatte das alles erst in Gang gesetzt. Doch war sie stark genug für das, was sie sich vorgenommen hatte?
    Â»Wir müssen jetzt aufbrechen«, mahnte Vinoc. »An einem Platz, wo Menschen umkamen, sollte man sich nicht länger aufhalten als nötig.«
    Animaya nickte. Je eher sie von hier verschwanden, desto besser. Sie pfiff nach Kapka und atmete erleichtert auf, als er und sein Gefährte kurz darauf durchs Dickicht zu ihnen trabten. Sogleich schwang sie sich auf Kapkas Rücken.
    Vinoc ritt schweigend voran. Lange sagte keiner von ihnen ein Wort. Die Bilder der Getöteten verdrängten jedes Gespräch.
    Wir hätten sie begraben sollen, sagte sich Animaya. Gleichzeitig wusste sie, dass dafür keine Zeit blieb. Im Norden des Waldes arbeitete sich Goliath voran. Die Felder der Umsiedler und die Maisminen würde er zuerst erreichen. Tausende von Leben standen auf dem Spiel – Leben, die Tupac und Kapnu Singa bereits aufgegeben hatten. Nicht nur das, die Untertanen wurden sogar bewusst geopfert, um mehr Zeit für die eigene Flucht zu haben.
    Sie folgten der Schneise ein Stück, auf der sich die Maiskarawane noch vor wenigen Tagen voller Zuversicht auf Paititi zubewegt hatte. Jetzt waren alle tot – und wenn sie mit dem Wunsch nach Rache im Herzen gestorben waren, hatten die Albinas neue Mitglieder rekrutiert.
    Stunde um Stunde verging, in denen Animaya das Erlebte immer wieder durch den Kopf ging. Und in denen sie sich fragte, was sie im Norden erwarten würde.
    Mit einem Mal stoppte Vinoc sein Lamagua am Fuße eines gewaltigen Baumes. Der Stamm war so dick, dass ihn auch zehn Männer mit ausgestreckten Armen nicht würden umspannen können. Animaya schätzte, dass er bestimmt vier- oder sogar fünfhundert Jahre gebraucht hatte, um so mächtig und ein zigartig zu werden. Ehe sie nachfragen konnte, war Vinoc schon von seinem Tier heruntergesprungen und begann, den Baum hinaufzuklettern.
    Â»Bleib du bei den Tieren!«, rief er. »Ich sehe mich mal um.«
    Animaya lenkte Kapka an den Baum und stellte sich auf seinen Rücken.
    Â»Kommt gar nicht infrage!«, antwortete sie kühn. »Ich habe lange genug gehorcht, jetzt will ich die Welt sehen.«
    Animaya war noch nie auf einen Baum geklettert. Das war verboten: Wer das Gleichgewicht verlor, gab unkontrolliert Laute von sich. Jetzt aber wollte sie das Leben mit beiden Händen anpacken.
    Â»Dann komm, du Ungehorsame!«, spottete Vinoc und lachte herzlich. Ohne sich noch einmal umzusehen, stieg er weiter aufwärts.
    Animaya setzte die nackten Füße auf die Bretterwurzeln und zog sich nach oben. Ihre Zehen krallten sich instinktiv fest. Die Rinde war furchig und sie fanden sofort Halt. Als Vinoc bemerkte, dass sich Animaya nicht so einfach abschütteln ließ, kam er zurück und half ihr ein paarmal bei kniffligen Stellen.
    Auf halber Höhe angekommen, stellte er sich auf einen dicken Ast und reichte Animaya seinen Arm. Doch Animaya presste sich lieber mit dem Rücken an den Stamm. Wenn sie versuchte, nicht nach unten zu sehen, ging es ganz gut.
    Sie holte tief Luft und hob den Kopf. Der Ausblick war gigantisch. Grün, Tausende Schattierungen von Grün, so weit das Auge reichte, dazu Millionen von Blüten. Der Wald pulsierte nur so vor Leben. Affen jagten sich kreischend durch die Wipfel. Vögel in allen Farben des Regenbogens zogen in Schwärmen über die Kronen hinweg.
    Animayas Herz füllte sich mit Freude darüber, nach vierzehn Jahren die Wahrheit über den Wald mit eigenen Augen sehen zu können. Dieser Wald konnte nicht böse sein. Er war die Heimat so vieler Arten von Tieren und Pflanzen, Nahrung und Schattenspender. Der Wald selbst tat niemandem etwas zuleide. Aber hinter seinem Blättervorhang verborgen lauerte etwas Zerstörerisches.
    Vinoc zeigte auf gerodetes Land, etwa eine Stunde Fußmarsch von ihnen entfernt.
    Â»Das sind die äußeren Felder der Umsiedler«, sagte er gepresst. »Daneben liegen die Maisminen.« Er holte tief Luft. »Ich hatte gehofft, nie wieder in ihre Nähe zu

Weitere Kostenlose Bücher