Der blutrote Kolibri
nur vor sich, wie diese Armee über Paititi herfallen würde. Die Stadt würde innerhalb weniger Augenblicke dem Erdboden gleichgemacht werden. Und jeder, der sich ihr in den Weg stellte, würde sein Leben lassen. So oder so, ihr Volk war verloren. Kapnu Singa hatte die einzig richtige Entscheidung getroffen: zu fliehen.
Goliath, den Anführer dieser Krieger, hatte sie immer noch nicht zu Gesicht bekommen. Wahrscheinlich trieb er den Feld zug innerhalb der Rauchsäule vorwärts. Animaya schauderte, als ihr bewusst wurde, dass sie haarscharf an ihm vorbeigeritten sein musste.
»Was jetzt?«, presste Animaya hervor.
Vinoc der starke General, hob hilflos und traurig die Schultern. »Ich bin ein guter Kämpfer«, antwortete er mit matter Stimme. »Ein Mensch jagt mir keine Furcht ein. Aber ein Kampf gegen diese Kreaturen ist hoffnungslos.«
Ein Tröten erklang. Es durchschnitt die Luft wie ein Kriegssignal. Animaya fürchtete, dass sich die Wesen nun für einen Angriff formieren würden, doch das Gegenteil war der Fall: Sie warfen ihre Waffen achtlos auf den Boden und hockten sich auf die frisch ausgerissenen Bäume. Die rollenden Häuser stoppten. Aus den gestapelten Häusern kamen Krieger über Treppen hinunter. Alle sammelten sich im Schatten. Auch Goliath hörte auf zu brüllen.
Als ein paar der Krieger ihre Helme ablegten, gefror Animaya das Blut in den Adern: Sie waren weiÃ! Es schienen Menschen zu sein, doch mit ihrer Haut stimmte etwas nicht. Hatte Goliath die Väter dieser Kreaturen mit Albinas gekreuzt? Dann waren bestimmt sie für das Ausbleiben und die Toten der Maiskarawane verantwortlich.
Vinoc traf eine Entscheidung. Ohne ein Wort zu sagen, zog er Animaya mit sich tiefer in den Dschungel hinein. Noch gab es hier Bäume und Pflanzen. Als sie auÃer Sichtweite der Krieger waren, pfiff er nach den Lamaguas. Gehorsam sprangen sie heran. Ihre Augen wanderten in höchster Unruhe hin und her.
Vinoc stieg auf. »Es macht keinen Sinn, länger hierzubleiben«, erklärte er. »Solange die Krieger essen, sind sie abgelenkt.«
Animaya hätte gerne noch Goliath selbst gesehen, wusste aber gleichzeitig, dass sie ihm noch früh genug gegenüberstehen würde. Spätestens, wenn er über Paititi herfiel.
In weitem Bogen ritten sie um die Rauchwolke herum auf den Baum zu, der ihnen als Ausguck gedient hatte. Als Landmarke war er hervorragend geeignet. Noch. Denn bald würde sicher auch er, der jahrhundertelang über den Wald gewacht hatte, Goliath zum Opfer fallen.
»Wir müssen die Stadt evakuieren«, war das Erste, was Vinoc nach einer Ewigkeit des Schweigens zu Animaya sagte. Er spie die Worte aus wie eine giftige Frucht. »Uns bleibt nicht mehr viel Zeit. Wenn sie mit dieser Geschwindigkeit weiter vorrücken, haben sie Paititi vielleicht schon in zehn Tagen erreicht.«
Animaya widersprach: »Sinnlos. Goliath will nicht die Stadt einreiÃen. Sein Ziel ist unser Volk. Wo auch immer wir uns verstecken, er wird uns finden.«
Sie dachte an Perlenhaut. Eine Evakuierung Paititis würde Goliath dazu bringen, seine Richtung zu ändern. So würden wohl wenigstens die Krokodilreiter verschont bleiben.
»Es gibt noch eine andere Möglichkeit«, sagte Animaya leise. »Wisya hat sie mir genannt. Mit ihrem Zweiten Gesicht.« Sie holte tief Luft. »Ich muss den wahren Thronfolger finden. Er wird Tupac im Kampf töten. Goliath scheint sich damit zufriedenzugeben.«
Vinoc nickte. »Aber wie willst du ihn finden? Seine Mutter ist mit dem Säugling in den Wald geflohen. Der Junge könnte überall sein, vermutlich ist er sowieso längst tot.«
Animaya schlug einen Ast zur Seite. »Das glaube ich nicht. Tupac ist sich sicher, dass ihn der wahre Thronfolger stürzen wird. Auch deshalb will er fliehen. Nicht umsonst hat Kapnu Singa das Lamaguafohlen getötet.«
Vinoc zwang seinen Hengst, langsamer zu gehen. »Seinem Schicksal kann niemand entkommen. Das ist so, als wolltest du deinem eigenen Schatten davonlaufen. Du kannst â¦Â«
Weiter kam Vinoc nicht. Aus dem Wipfel eines Baumes war ein Seil heruntergesaust. Nun lag es um Vinocs Hals. Die Schlinge zog sich zu.
»Spin-nen«, quetschte Vinoc hervor. Sein Gesicht schwoll an.
Ohne sich um die Angreifer zu kümmern, lenkte Animaya ihr Lamagua neben seins. Mit beiden Händen riss sie an dem Seil. Es war klebrig, ihre
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