Der blutrote Kolibri
Finger sanken hilflos in dem Harz ein.
»Halt aus!«, schrie sie. »Ich befreie dich!«
Vinoc lief dunkelrot an. Erste Ãderchen platzten in seinen Augen. Matt schüttelte er den Kopf.
»Zwecklos â¦Â«, krächzte er kaum verständlich. Er warf den Kopf in den Nacken. Seine FüÃe stemmten sich in die Seiten des Lamaguas. Es tänzelte nach links, schob ihr eigenes Reittier zur Seite. Keinen Wimpernschlag zu früh. Neben Animaya schwang ein zweites Seil in der Luft. Das war für sie bestimmt gewesen.
»Im Tempel â¦Â«, keuchte Vinoc. »Du ⦠musst ⦠in den ⦠Tempel.« Ãchzend sog er die Luft ein. »Und küss Wisya von mir â¦Â«
Seine Beine rutschten vom Rücken des Lamaguas. Die Spinnenmenschen am anderen Ende des Seils zogen ihn zu sich nach oben.
GEMEINSAMES SCHICKSAL
Animaya hatte falschgelegen, als sie das Alter des mächtigen Baums auf vier- oder fünfhundert Jahre geschätzt hatte. Tatsächlich hatte der Samen des Riesen vor mehr als einem Jahrtausend zu keimen begonnen, etwa zu der Zeit, als der Wikinger Leif Erikson Amerika erreichte. Sonne und Regen hatten das Innere aufquellen lassen und schlieÃlich die Schale gesprengt.
Die zarte Wurzel hatte sich mühsam ins Erdreich gegraben und war wie durch ein Wunder nicht von einem der Milliarden Pflanzenfresser des Dschungels verspeist worden. Bald war die Energie, die im Samenkorn gesteckt hatte, aufgebraucht. Der Keimling sog sie nun aus der Humusschicht des Bodens.
Um gegenüber den anderen Pflanzen zu bestehen, hatte er nur eine Chance: Er musste wachsen. So schoss er in die Höhe, drängte andere Bäume zur Seite im Kampf ums Licht. Machte sich breit, bildete immer mehr und mehr Ãste und streckte sie zu allen Seiten weit von sich.
Nach hundertfünfzig Jahren, der zweite Kreuzzug in Jerusalem wurde damals zerschlagen, hatte er es geschafft: Seine Blätter bildeten nun das Dach für alle Pflanzen darunter. Noch einmal hundert Jahre später überragte er die anderen schon um mehrere Mannslängen. Marco Polo erreichte China.
Dann wuchs der Baum nur noch in die Breite. Fingerbreit um Fingerbreit. Um seinen fünfhundertsten Geburtstag herum kamen Schiffe übers Meer, mit kaum mehr als einer Handvoll Spaniern an Bord. Innerhalb von ein paar Monaten war Südamerika erobert. Der Baum wuchs weiter. Die letzten Ãberlebenden der Inka versteckten sich im Wald und führten Krieg gegen die einheimischen Stämme. Viele dieser Völker wurden vernichtet, andere änderten ihre Lebensweise, wie die Kroko dilreiter. Eine Gruppe verlieà den Boden gar für immer, wurde zu den Spinnenmenschen, die behände an Rinden hochklettern konnten, Netze zum Schlafen flochten und ihre Beute mit Seilen in die Höhe hievten. Der mächtige Baum war ihr Hauptquartier, ihr Heiligtum. In seiner ausladenden Krone wim melte es von ihnen.
Kaum war Vinoc hochgezogen worden, hatte auch Animaya das Schicksal ereilt: Eine klebrige Schlinge schnürte nun ihren Brustkorb ein und sie baumelte zwei Mannshöhen über dem Boden.
Ein heftiger Würgereiz schüttelte sie, als sie mit ansehen musste, wie sich die Spinnenmenschen über Vinoc hermachten. Behände wie die flinken Achtbeiner spannen sie seinen Körper in einen Kokon aus verharzten Seilen ein, bis nur noch sein Gesicht hervorschaute. AnschlieÃend schnitt ihn ein Spinnenmann los und sie warfen die Beute in ein Netz. Unter lautem Jubel machte sich der halbe Stamm über den Mann her, der ihnen in die Falle gegangen war. Frauen, Kinder, Greise zau berten fingerdicke Rohre aus ihren Lendenschurzen. Animaya schloss die Augen.
Imeldas leere Körperhülle schoss ihr durch den Kopf. Die Haut wie von innen heraus leer geschabt. Animaya wusste, was nun kommen würde. Die Spinnenmenschen würden Vinoc ihre Röhrchen an den verschiedensten Stellen in den Körper rammen und zuerst nur sein Blut schlürfen. Wie sie es schafften, auch das Fleisch aufzulösen, würde sie bald am eigenen Leib erfahren.
Mit der Schlinge um die Brust konnte Animaya nur schwer atmen. Sie merkte, wie ihr die Sinne schwanden. Und Vinocs stummer Blick trieb ihr Tränen in die Augen. Dann begann sie zu lachen. War das nicht alles sehr komisch? Vinoc auszusaugen, der heute Morgen noch einen Spinnenmann als seinen besten Freund bezeichnet hatte! Ausgerechnet ihn, der diesen Stamm immer
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