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Der blutrote Kolibri

Der blutrote Kolibri

Titel: Der blutrote Kolibri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo P. Lassak
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kommen …«
    Animaya hörte, welch tiefer Schmerz in diesen Sätzen mitschwang. Vinocs Leben hatte viele Wendungen genommen: vom General zum Sklaven und zum einfältigen Mann einer Yatiri. Nun stand wieder der General neben ihr. Wie bei einer Auster hatte ein Sandkorn genügt, um eine heftige Reaktion hervorzurufen. Doch die Demütigung durch Tupac hatte sein Herz nicht in Stein verwandelt, sondern eine Perle wachsen lassen. Wenn mir so etwas doch auch gelänge, dachte Animaya und seufzte im Stillen. Liebe finden, die jeden Hass überbrückt.
    Â»Was uns mehr Sorgen machen sollte, ist das da.« Vinoc zeigte nun auf eine Stelle am Horizont.
    Zitternd ließ Animaya mit einer Hand den Stamm los und fasste sich beunruhigt ans Herz. Eine pechschwarze Rauchsäule stieg zum Himmel, ihre Grundfläche konnte kaum kleiner sein als Paititi. Der Auslöser des Qualms war auf die Entfernung beim besten Willen nicht auszumachen, doch Animaya kannte seinen Namen: Goliath.
    Abwesend fuhr Vinoc mit den vier Fingern seiner rechten Hand über den Griff des Schwerts. Als würde er überlegen, ob kämpfen oder fliehen die bessere Entscheidung war.
    Â»Das ist es«, murmelte er. »Das Grauen, von dem Milac uns berichten wollte. Ich fürchte, wir müssen näher ran.«
    Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, umschlang er eine der Wurzeln und hangelte sich nach unten. Animaya achtete auf jede seiner Bewegungen und ahmte sie nach. Unterwegs blieb ihre Hand kurz an einer klebrigen Liane hängen, aber sie achtete nicht weiter darauf. Nach wenigen Minuten ritten sie in Richtung der Rauchsäule.
    Je näher sie Goliath kamen, desto mehr veränderte sich der Wald. Das Unbehagen kroch Animaya wie eine Schlange den Nacken hinauf. Erst nach einer Weile wusste sie, was sie störte: Es war die Stille. Kein Vogel sang in den Baumkronen, nirgends raschelten Blätter.
    Â»Es kann nicht mehr weit sein«, flüsterte Vinoc, als hätte er Angst, der Feind könnte ihn hören.
    An einer Biegung des Knochenflusses weigerte sich Kapka weiterzugehen. Der Hengst warf den Kopf herum und schnappte mit seinen Jaguarzähnen vor Animayas Gesicht herum. Keine Geste der Bedrohung, sondern der nackten Angst. Animaya sprang ab. Jetzt konnte sie es auch fühlen. Der Boden vibrierte. Etwas Großes, Böses war am Werk. Dann erklang in der Ferne ein fürchterliches Ächzen, ein Heulen wie der Schrei einer Albina durchschnitt die Luft. Vor dem Hintergrund der schwarzen Rauchsäule neigte sich ein Urwaldriese nach vorne, fällte bei seinem Sturz weitere große und kleine Bäume und schlug krachend auf. Ein Schluchzen erfüllte plötzlich die schweigende Welt, der Wald weinte.
    Â»Näher ran, wir müssen näher ran!«, feuerte Vinoc sie erbittert an. Schweiß stand auf seiner Stirn. Seine Augen blickten starr in die Ferne. »Wir können den Feind nur bekämpfen, wenn wir ihn kennen.«
    Er griff seinem Lamagua in die Mähne und riss sie viel zu hart herum. Das Tier bäumte sich auf den Hinterbeinen auf und preschte los.
    Animaya schwang sich auf Kapkas Rücken und flüsterte ihm ins Ohr: »Hol deinen Kumpan ein. Und gib auf mich Acht. Was immer auch passiert, lass mich nicht allein zurück!«
    Der Hengst schnaubte. Dann raste auch er los.
    Einzelne Rauchfahnen, die sich aus der Säule herausgelöst hatten, wehten ihr entgegen. Animaya begann zu husten. Es roch nach Tod, wo eben noch sprühendes Leben gewesen war.
    Einen Moment lang war es Animaya, als wollten die Baumriesen vor der undurchdringlichen Schwärze der Säule fliehen. Als rissen sie an ihren Wurzeln, fluchend, sie nicht wie Beine aus dem Erdreich ziehen zu können, um zu türmen. Um ihr Leben zu retten.
    Plötzlich erschallte ein Rattern aus dem Dunst – ein Geräusch, das mit nichts vergleichbar war, was Animaya jemals gehört hatte. Markerschütternd, knochenknackend, ohrenzerfetzend. Ein Baum fiel. Und noch immer kein sichtbarer Hinweis auf Goliath. Oder war er die Säule höchstpersönlich?
    Sosehr Kapka sich auch anstrengte, zwischen ihm und Vinocs Hengst lagen noch immer zehn Lamagualängen. Die Säule bewegt sich nicht starr nach oben, schoss es Animaya durch den Kopf, sie dreht sich. Wie einer der kleinen Strudel, die sich in der Lagune unter dem Zulauf bildeten. Ein gewaltiger, aufwärtsgerichteter Strudel, der welkes Laub und tote Tiere in

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