Der blutrote Kolibri
Punkte waren, die nachts am Himmel standen. Nachts � Animaya schreckte hoch. Ihr Kopf dröhnte. Sie versuchte etwas zu sagen, aber ihre Kehle brannte. Ein kalter Lappen rutschte ihr von der Stirn.
»Keine Angst, das sind nur die Sterne«, sagte Perlenhaut.
Er hockte an einem Feuer und hielt einen zugeschnitzten Zweig in die Flammen. Duft von gebratenem Fleisch hing schwer in der angenehm kühlen Luft. Die Lamaguas lagen gut versorgt unter einem Baum und dösten.
Das sind also Sterne, dachte sie mit einem Lächeln. Nach ihnen hat er mich benannt â¦
Bei dem herrlichen Bratengeruch lief ihr das Wasser im Munde zusammen, doch unweigerlich kam ihr das achtzehnte Gebot in den Sinn.
»Wir dürfen keine Tiere essen!«, entfuhr es ihr. »Fleisch und die roten Früchte der empfindlichen Staudenpflanzen sind für die Angehörigen der höchsten Kaste vorgesehen. Sie leisten viel Kopfarbeit und benötigen die Extrarationen am nötigsten.«
Perlenhaut zuckte mit den Schultern. »Kannst es ja liegen lassen, wenn du nicht willst.«
Er holte den Stab aus dem Feuer. Geröstetes Gürteltier. Eine Delikatesse, die Animaya im Viertel der Reichen schon oft gerochen hatte. Perlenhaut legte das Fleisch auf ein Stück Leder und zerteilte es mit seinem Messer in mehrere Stücke.
»Also?«, fragte er grinsend.
Animaya wollte den Kopf schütteln, schlieÃlich war das streng verboten. Dann aber dämmerte ihr, dass sie in den letzten Stunden so ziemlich alle Regeln gebrochen hatte, die sich die Inkas zum Wohle des Volkes ausgedacht hatten. Sie saà während der Aufstehsperre mit einem Krokodilreiter im Wald. Das bisschen Fleisch spielte da auch keine Rolle mehr. AuÃerdem knurrte ihr Magen entsetzlich, den ganzen Tag über hatte Animaya nicht mehr als Wasser zu sich genommen.
Sie stand auf und nahm sich ein Stück Fleisch, dann aà sie schweigend. Es war köstlich. Perlenhaut hatte es mit ein paar Kräutern gespickt. Nachdem sie noch ein zweites Stück herun tergeschlungen und eine ganze Kürbisflasche Wasser geleert hatte, fühlte sich auch ihr Hals besser an.
»Danke«, sagte Animaya leise.
»Was meinst du? Danke für das Essen oder danke, dass du mich gerettet hast?« Er zwinkerte ihr verschmitzt zu.
»Ich schätze, für beides«, antwortete sie ernst. »Aber vielleicht wäre es das Beste gewesen, die Spinnenmenschen hätten auch mich ausgesaugt.«
»Klar«, spottete Perlenhaut. »Der Tod ist immer die einfachste Lösung. Leben ist schwerer.«
Animaya holte tief Luft. »Du hast gut reden. Ich kann nie wieder nach Paititi zurückkehren. Heute habe ich alles verloren. Mein Volk, meine Stadt, mein Dach überm Kopf, meine Freundinnen und Nachbarn, meine Tiere und meinen Beschützer.«
Perlenhaut warf ein Stück Holz ins Feuer. Sofort griffen die Flammen danach. »Dafür hast du einen neuen Beschützer und was den Rest angeht â¦Â«
»Nein, du verstehst das nicht!«, sagte sie aufgebracht. »Ich weià wirklich zu schätzen, dass du dich für mich in Lebensgefahr begeben hast. Aber es ist sowieso sinnlos. Ich habe gesehen, warum der Wald in Aufruhr ist. Ein Beschützer reicht da nicht, auch nicht tausend. Gott Inti selbst müsste vom Himmel herabsteigen und uns beistehen â¦Â«
Perlenhaut sah sie nachdenklich an. »So stimmt es also, was mein Stammesältester im Wasser des Flusses gelesen hat? Etwas Böses vergiftet den Wald.«
Animaya stand auf. »Ja, und es gibt nur einen Weg, es aufzuhalten: Ich muss den wahren Thronerben finden. Tupacs Zeit muss enden, dann wendet sich Goliath ab, so lautet die Prophezeiung der Goldenen Maske. Aber wie ich das machen soll, keine Ahnung.«
Sie drehte sich um und pfiff nach ihrem Lamagua. Kapka erhob sich folgsam auf die Hufe und trabte zu ihr.
»Vinoc hat gesagt, eine Antwort finde ich im Tempel.« Schlagartig wurde ihr klar, was der General gemeint haben musste: die gefangene Albina! Animaya hatte mit eigenen Augen gesehen, wie sie von Kapnu Singa in den Tempel geschleift worden war. Kannten diese Wesen nicht die Vergangenheit und die Zukunft, wie Wisya behauptet hatte? Dann musste sie auch wissen, wie man den wahren Thronfolger erkannte.
Einmal im Tempel angelangt, würde Pillpa ihr sicher weiterhelfen. Ihre geliebte Pillpa! Auch wenn sie erst ein paar Tage dort war, hatte sie sich bestimmt schon
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