Der blutrote Kolibri
umgesehen und kannte jeden Winkel.
»Sie halten eine Albina in unserem Tempel gefangen«, teilte Animaya Perlenhaut mit. Sie versuchte, dabei möglichst unbeteiligt zu klingen. »Sie weià es. Und ich werde sie danach fragen.«
Perlenhauts Pupillen weiteten sich erstaunt. »Diese Wesen schätzen euer Volk nicht besonders. Glaubst du wirklich, die Albina wird sich dir anvertrauen? Noch dazu in Gefangenschaft?«
»Ja, denn ich habe ihr nichts getan.«
»Du wirst keine Gelegenheit haben, deine Frage zu Ende zu stellen.«
Animaya schnaubte. Was sollte das hier? Wollte Perlenhaut ihren Plan kaputtreden?
»Wenn ich in den Tempel komme, werde ich die Albina finden. Und wenn ich sie finde, wird sie mir antworten. Denn ich habe etwas zum Tausch anzubieten, was sie begehrt: Freiheit!«
Perlenhaut lachte. »Diese Wesen gibt es nur, weil die Gedanken an Rache ihr Herz schon zu Lebzeiten aufgezehrt haben. Und du willst eine gefangene Albina freilassen? Dann bist du noch verrückter, als ich angenommen habe.«
Animaya schwang sich auf Kapkas Rücken und reichte Perlenhaut die Hand zum Abschied.
»Und du bist noch frecher, als ich dachte. Leb wohl!«
Trotz ihrer Wut lief Animaya ein Schauer über den Rücken, als der Krokodilreiter ihre Hand nahm. Seine Finger waren warm und feingliedrig. In seinem Griff war keine Plumpheit, wie bei den Jungen in der Stadt. Animaya schloss kurz die Augen und einen Moment lang gab es für sie nur seine und ihre Hand.
»Danke für deine Hilfe«, sagte sie seltsam ergriffen. »Wie hast du mich eigentlich gefunden?«
Perlenhaut lieà sie los und deutete auf den Ast über ihr. Als sie den Kopf in den Nacken legte, sah sie den roten Kolibri dort hocken und mit dem Schnabel wackeln.
»Er hat mich heute Morgen geweckt. Mein Krokodil ist schnell. Bis zu dem Platz mit den Toten war ich euch dicht auf den Fersen. Dann wurde der Fluss zu dreckig und ich musste zu Fuà weiter. Der Vogel hat mir keine Ruhe gelassen, bis ich den Spinnenbaum erreichte.«
Danke, Vater, dachte Animaya im Stillen. Laut sagte sie: »Ich werde jetzt zu Ende führen, was meine Eltern angefangen haben!«
Sie hielt die Handfläche nach oben. Der Kolibri zögerte keinen Flügelschlag lang, sondern flatterte sofort auf einen ihrer Finger. Animaya beulte die Tasche ihres Kleides aus und setzte den Vogel hinein.
»Hilf mir!«, bat sie Achachi leise, und es kam aus tiefstem Herzen. Dann griff sie in Kapkas Mähne und wendete ihn.
»Warte!« Perlenhaut legte seinen Arm um Kapkas Hals, um ihn zu stoppen. Jeder andere wäre augenblicklich von dem starken Gebiss bestraft worden. Doch der Hengst blieb ruhig.
»Ich komme mit, das ist mehr als recht. Das Schicksal hat unsere Völker aneinandergekettet. Wenn ihr sterbt, werden auch wir sterben.«
Animaya stieà scharf die Luft aus. »Vergiss es! So schön der Gedanke auch ist, nicht alleine gehen zu müssen, aber du wärst mir nur ein Klotz am Bein. In Paititi würden sie dich sofort â¦Â«
Perlenhaut sah sie durchdringend an. »Wie willst du denn reinkommen in eure Stadt? Die Torwachen wirst du kaum fragen können. Ich hingegen kenne einen Weg. Oder glaubst du wirklich, ich war damals das erste Mal in eurer Stadt?«
Er nahm seinen Arm von Kapkas Hals. Animaya wollte dem Lamagua schon die Fersen in die Seite drücken, besann sich aber anders. Sie hatte nicht einmal die leiseste Ahnung, in welcher Richtung Paititi lag. AuÃerdem wusste sie nicht, was sie tun sollte, wenn eine Albina ihren Weg kreuzte.
»Versuchen wir es. Aber glaube ja nicht, ich mach das nur, weil ich allein im Dunkeln Angst habe.«
Perlenhaut grinste. »Auf keinen Fall.« Er pfiff sein Lamagua heran. Geschmeidig schwang er sich auf dessen Rücken und der Ritt ging los.
Seite an Seite flogen die beiden Lamaguas durch den Wald. Perlenhaut schien sich mit Leichtigkeit orientieren zu können. Wann immer eine Lücke in den Baumkronen den Blick auf den Himmel freigab, sah er sich die Sterne an und korrigierte die Richtung. Animaya versuchte, nicht allzu beeindruckt zu wirken.
Während sie durch die Nacht ritten, ging ihr unendlich viel durch den Kopf. Goliath, sterbende Baumriesen, Tierkadaver im Fluss. Spinnenmenschen, die Vinoc aussaugten. Pillpa im Tempel. Und Wisya, der sie einen Kuss von ihrem toten Mann geben musste.
Am Ufer des Knochenflusses verlangsamte der junge
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