Der blutrote Kolibri
Moment in den Hintergrund traten.
Animaya beugte sich noch eine Idee weiter vor und schloss erwartungsvoll die Augen.
Jetzt!, schoss es ihr durch den heiÃen Kopf. Sie spürte schon, wie sein warmer Atem ihren Mund streifte und sie musste wieder an Pillpas Worte denken: Man munkelt, sie habe sich in einen Krokodilreiter verliebt und ihn sogar geküsst.
Animaya konnte sich genau erinnern, was sie damals in der Lagune geantwortet hatte: Einen Krokodilreiter küssen? Wer sollte das freiwillig tun?
Nun war es also so weit. Doch kurz bevor sich ihre Lippen zu einem Kuss vereinen konnten, tauchte Gator ein wenig ab. Das schlammige Wasser bespritzte ihre Gesichter.
Natan richtete den Blick wieder nach vorne und schüttelte sich die Tropfen aus den Haaren. Hatte er das Gleiche gefühlt wie sie? Wahrscheinlich nicht. Er hatte sich vielleicht einfach nur aus Höflichkeit zu ihr umgewandt, als sie miteinander sprachen. Animaya kam sich plötzlich schrecklich albern und dumm vor.
»Wir sind gleich da«, flüsterte Natan. Er drehte sich ihr halb zu und presste den Finger auf ihre Lippen.
Animaya spähte zur Seite. Da lag die Stadt. Aus so groÃer Entfernung hatte sie Paititi noch nie gesehen. Prächtig sah die Stadt aus, aber auch bedrohlich und abweisend. Und doch war sie klein und verletzlich, wenn Goliath sie mit seiner Armee überrollte.
»Still!«, ermahnte Natan sie noch einmal. »Und duck dich so tief wie möglich.«
Animaya nickte. Dabei hätte sie am liebsten die Arme gehoben und gewunken. Nur einen Tag war sie weg gewesen und doch vermisste sie die Stadt. Heimat bleibt Heimat, dachte sie, auch wenn sie von Tyrannen besetzt ist.
Gator schob sich so unsichtbar durch das Wasser, wie er es tat, wenn er sich seiner Beute näherte. In perfekten Bewegun gen. Nur die nach oben gewölbten Nasenlöcher auf der Schnauze und die faustgroÃen Augen ragten noch aus dem Fluss.
Die Mauer kam immer näher und näher. Jetzt erkannte Animaya die Wachen, die Fremde für Statuen halten mochten. Es waren mehr als in den Nächten, in denen sie sich mit Wisya getroffen hatte. Man hatte den Schutz der Stadt verstärkt â ihretwegen? Hatte man nach ihr gesucht, als sie nicht zur Arbeit erschienen war? Und wenn ja â als Verräterin? Oder als Opfer?
Natan packte seinem Krokodil ins Maul und lenkte es so in Ufernähe. Ihre Konturen verschmolzen auf die Entfernung mit dem Gestrüpp, da war sich Animaya sicher. Für Beobachter des Flusses trieb dort nur ein Baumstamm vorbei oder ein weiterer Tierkadaver. Das Wasser stank entsetzlich.
»In den Kanal, wenn ich dir ein Zeichen gebe«, flüsterte Natan Gator ins Ohrloch.
Als das Krokodil fast unterhalb der Wachposten war, griff Natan ihm wieder ins Maul. Gator durchschnitt den Fluss quer zur Strömung. Sollte einer der Wachen in diesem Moment nach unten sehen, würden sie auffliegen. Der Mond war zu hell, um unentdeckt zu bleiben. Animaya biss die Zähne aufeinander. So vieles hing davon ab, dass sie in die Stadt kamen. Und zwar lebend. Vorsichtig holte sie den zarten Kolibri aus der Tasche.
»Achachi, weiser Vogel«, sagte sie kaum hörbar. »Du weiÃt, was auf dem Spiel steht. Führe uns heil in den Tempel.«
Sofort spreizte er die Flügel und kurz darauf vernahm sie ein Schwirren in der Nachtluft. Vor dem Wachposten, der ihnen am nächsten stand, flatterte der Kolibri auf und ab. Der Mann durfte nicht zucken und schon gar nicht um sich schlagen, was auch passierte. Sonst würde er nach Norden versetzt werden, wie es so schön hieÃ. Animaya wusste jetzt, dass solche Verfehlungen direkt in die Maisminen führten. Aber was die Wache mit ihren Augen machte, konnte kein General von hinten sehen. Auf jeden Fall war der Mann jetzt erst mal abgelenkt.
Sekunden später erreichten die drei den Ausgang des Kanalrohrs. Ein kleines, übel riechendes Rinnsal ergoss sich in den Knochenfluss, hauptsächlich wohl Urin der Göttertiere.
»Puh!«, stöhnte Animaya.
Natan hielt ihr sofort den Mund zu. Zu spät, ihr Stöhnen hallte bereits von den Wänden des Rohrs zurück: Puh-puh-puh â¦
Natan deutete in das Rohr hinein. Eindeutig ein Zeichen dafür, dass sie dort reinkrabbeln sollte. Animaya nickte wortlos, rutschte vom knotigen Rücken des Krokodils herunter und robbte los. Dickflüssige Pampe umschloss ihre Ellenbogen und Beine.
Im Rohr war es
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