Der böse Wulff?: Die Geschichte hinter der Geschichte und die Rolle der Medien
vergessen. Wulffs Engagement für die NSU-Opferfamilien wird ausgeblendet. Eine Woche zuvor hatte dieselbe Zeitung den Präsidenten und seine Frau auf der Reise durch die Golfstaaten noch in einem Traum von 1001 Nacht inszeniert. Gleichzeitig
wird der Eindruck erweckt, als hätten sich Wulffs Vorgänger im Amt
häufiger mit großen Reden zu tagesaktuellen Themen zu Wort gemeldet. Sehr schnell geht es in einigen Medien ganz grundsätzlich um
die Frage, ob Wulff dem Amt gewachsen ist, und die Antwort fällt
immer eindeutig aus: Nein. Es ist eine Art Schnellgericht, das zumindest ein Teil der Medienlandschaft abhält, bei dem die Frage, ob die Vorwürfe gegen Wulff überhaupt justiziabel sind, allerdings keine
Rolle spielt: Es geht ausschließlich um Moral.
Nur wenige setzen sich in den Wochen der Krise kritisch mit der
Rolle der Medien auseinander. Jan Fleischhauer ist einer von ihnen,
der in seiner Kolumne bei Spiegel Online Anstoß daran nimmt, wie
selbstverständlich die Medien sich zur moralischen Instanz erheben.
Unter dem Titel „Vor den Gerichtshöfen der Moral" beklagt er eine
Woche nach Beginn der Präsidentenkrise, dass man in der Politik sehr
schnell vor einem „Moral-Standgericht" landen könne, bei dem Anklage und Urteilsfindung in einer Hand lägen: „Nicht einmal 48 Stunden brauchte es im Fall Wulff für die Beweisaufnahme, dann stand
das Urteil fest." Dabei sei bislang noch gar nicht klar, gegen welches
Gesetz Wulff verstoßen habe. Die moralischen Normen hingegen, die
der Präsident verletzt habe, seien nirgendwo kodifiziert. „Das Beängstigende an dieser Art Moraljagd ist das Willkürliche", fährt Fleischhauer fort. „Wo jede Strafprozessordnung suspendiert ist, sind vor
Gericht auch nicht mehr alle gleich. Welches Vergehen zur Verhandlung kommt, hängt an der Laune der Ankläger." Auch der Publizist
Josef Joffe setzt sich in der Zeit Mitte Januar kritisch mit der Selbstgerechtigkeit der Medien im Fall Wulff auseinander. Die Causa Wulff
habe etwas „Beklemmendes" gezeugt: „die Medien als Ankläger, Geschworene und Richter", schreibt Joffe und fährt fort: „Was nicht justiziabel ist, wird zur moralischen Verfehlung. Ist die zu klein, kreiden
wir ihm mangelnde Eignung an. Oder die Beschädigung seines Amtes.
,Wir kriegen ihn so oder so', singt der Chor der Selbstgerechten."
Im Laufe der Krise wird Wulff als Trickser, Vertuscher und peinlicher Schnäppchenjäger im Bellevue inszeniert: Die Urlaube bei befreundeten Unternehmern, das Upgrade bei Air Berlin, der private
Kredit bei einem Freund, die auffallend günstigen Bankkonditionen
zur Finanzierung seines Hauses, das taktische Verhältnis zur Wahrheit
- all das ist zwar real, gleichzeitig aber wird mit Akribie jedes Detail in der Biografie dieses Mannes gesammelt, das helfen kann, das Bild
vom bösen Wulff zu zeichnen, bei dem es immer nur um Lug und
Trug, um Luxus und Glamour auf Kosten anderer gegangen sei. Es
ist ein Zerrbild, das in diesen Wochen entsteht, und das alles ausblendet, was diesem Eindruck widersprechen könnte. Jeder Stein wird
umgedreht, die absurdesten Geschichten werden recherchiert. Dass
der junge Wulff eine Rolex besessen habe, wird zum Beweis dafür, dass
er immer schon einen Hang zum Glamour hatte. Zu den Höhepunkten gehört eine Anfrage einer seriösen Zeitung, die das Präsidialamt
in den Wochen der Krise erreicht: Das Blatt will erfahren haben, dass
Christian Wulff als Teenager seine Mitschüler mit After Eight und
Kleingeld bestochen habe, damit sie ihn zum Schülersprecher wählen.
Woher solche Gerüchte kommen, bleibt schleierhaft. Als bekannt wird,
dass die Wulffs von einem Autohändler ein Bobby-Car geschenkt bekommen haben, wird auf der Terrasse des Hauses in Großburgwedel
ein weiteres Bobby-Car gesichtet. Daraufhin fragt eine Zeitung im
Präsidialamt an, wie viele Bobby-Cars die Wulffs denn insgesamt besitzen und von wem sie sie bekommen haben. Dabei steht außer Frage,
dass vieles, was über Wulff und seinen Charakter in den Wochen der
Krise geschrieben wird, zutreffend ist - doch im Zuge der Skandalisierung findet eine völlig einseitige Reduzierung auf das Negative statt,
das bewusste Ausblenden aller anderen Charaktereigenschaften oder
der politischen Bilanz.
Hinzu kommt, dass die Medienbranche selbst ein erhebliches Maß
derselben Schnäppchen-Mentalität aufweist, die Wulff in den Wochen
der Krise zum Vorwurf gemacht wird. Nur vereinzelt wird
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