Der böse Wulff?: Die Geschichte hinter der Geschichte und die Rolle der Medien
Bundestagsabgeordneter aus der Deckung
wagt, wird die frühere DDR-Bürgerrechtlerin und ehemalige CDUBundestagsabgeordnete Vera Lengsfeld plötzlich zum „Sprachrohr"
ihrer Partei, obwohl sie im politischen Betrieb der Hauptstadt keinerlei
Rolle mehr spielt. Lengsfeld meldet sich Anfang Januar mit einer Rücktrittsforderung zu Wort, da Wulff zur „Witzfigur" verkommen sei.
Mitte Januar schließlich kommt der Berliner CDU-Abgeordnete
Karl-Georg Wellmann groß heraus, als er Wulff in einer Sendung bei
zdf neo den Rücktritt nahelegt. Dasselbe gilt für den Brandenburger
Hans-Georg von der Marwitz. Da sich sonst niemand äußert, werden
Akteure zu Kronzeugen, die faktisch über keinerlei Einfluss verfügen.
Gleichzeitig wird das Schweigen der Masse in den Fraktionen des
Bundestages ausschließlich als stille Missbilligung interpretiert. Zwar
ist tatsächlich im Laufe der Wochen kaum noch jemand bereit, für
Wulff einzutreten, dennoch gibt es hinter vorgehaltener Hand neben
dem Kopfschütteln über den Bundespräsidenten und dem Entsetzen
über sein Krisenmanagement durchaus auch Kritik an der Rolle der
Medien. Die allerdings traut sich niemand zu äußern. Nichts scheuen
Politiker mehr als „Medienschelte".
Während der Bundespräsident in der zweiten Januarhälfte versucht,
zur Tagesordnung zurückzukehren, bemühen sich die Medien, den
Skandal am Laufen zu halten. Bis auf wenige, vereinzelte Stimmen ist
die gesamte Medienlandschaft der Überzeugung, dass Wulff zurücktreten muss. Zu denen, die einsam gegen den Strom schwimmen,
gehört Hans-Ulrich Jörges vom Stern. Er warnt in der ARD-Sendung
„Maischberger" Mitte Januar vor einer „Medienrepublik in Reinform",
in der es kaum noch „gravierende Meinungsunterschiede" gebe. Wulff
selbst ist entschlossen, die Krise durchzustehen. Die Vorwürfe vom
Anfang treten dabei zunehmend in den Hintergrund. An der Hausfinanzierung der Wulffs ist nach juristischer Überprüfung schließlich
nichts mehr auszusetzen, das Thema verschwindet im Laufe der Wochen von der Bildfläche. Dasselbe gilt zunächst auch für die Urlaube
bei befreundeten Unternehmern. Die Empörung über die MailboxNachricht erlebt ihren Höhepunkt in der ersten Januarhälfte. Danach
verliert sich die Berichterstattung im Kleinkarierten. Zum Teil kommt
es zu journalistischen Schnellschüssen, wie der Geschichte über einen
Audi Q3, den die Wulffs angeblich zu Sonderkonditionen bekommen haben sollen. Ein endgültig auch für die Medien peinliches Niveau
erreicht die Krise mit der Skandalisierung eines Bobby-Cars, ein Geschenk von einem Autohaus.
Die tagelange Debatte darüber, ob Wulff nun Hunderte Fragen und
Antworten der Medien ins Internet stellen wird oder nicht, ist eigentlich
völlig irrelevant, beschädigt die Glaubwürdigkeit Wulffs aber weiter
massiv. In der Süddeutschen Zeitungkommentiert Heribert Prantl, Ressortchef Innenpolitik, Mitte Januar, dass die Vorwürfe gegen Wulff
„immer kleiner, immer kleinlicher, immer kleinkarierter" werden. Im
Kern geht es mittlerweile um etwas anderes: um einen Machtkampf
zwischen Bellevue und Medien. Während der Präsident entschlossen
ist, im Amt zu bleiben, haben die Medien beschlossen, dass er gehen
muss. Die Zeit sieht in der Präsidentenaffäre Mitte Januar „Eine Macht
probe", in der sich der Präsident an das Amt und die Medien an das
Thema klammern. Durch ihre Zurückhaltung überlässt die Politik den
Medien das Feld, von denen zumindest ein Teil den Anspruch erhebt,
mitentscheiden zu dürfen, ob der Präsident im Amt bleiben kann oder
nicht. „Es ist nicht die Aufgabe der Medien, einen Rücktritt zu erzwingen", kommentiert Prantl bereits am 9. Januar 2012. „Ein Rücktritt ist
nicht die den Medien zustehende Bestätigung und Belohnung für die
Aufdeckung einer Affäre. Und das Ausbleiben des heftig geforderten
Rücktritts ist nicht etwa ein Angriff auf die Pressefreiheit."
In einem Interview mit dem Kölner Stadtanzeiger am 10. Januar
sieht der Medienwissenschaftler Pörksen die Medien in einer „Skandalisierungsstarre" mit dem Ziel, den Rücktritt zu erwirken: „Sie wollen nicht nur, was in Ordnung wäre, entlarven, sondern eben auch
Politik machen, die Personalentscheidungen massiv beeinflussen. Und
das ist dann nicht mehr in Ordnung." In der Rückschau stellt Pörksen
im Oktober 2012 aber auch fest: „Die Macht der Medien war am Ende
nicht so gewaltig, denn über Wochen ist es nicht
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