Der böse Wulff?: Die Geschichte hinter der Geschichte und die Rolle der Medien
Publikumsempörung. Das ist ein Zeitzeichen für die
neuen Empörungsverhältnisse. Man kann dieses Auseinanderklaffen
in verschiedenen Debatten der letzten Zeit beobachten: bei Guttenberg,
Sarrazin und eben bei Wulff- nur im Unterschied zu früher weiß man
heute davon. Die Spaltung der Öffentlichkeit ist manifest geworden."
Angesichts der immer stärkeren Neigung zur Skandalisierung gibt
es in der Bevölkerung ein diffuses Misstrauen der Macht der Medien gegenüber. Tatsächlich ergibt eine Umfrage des Allensbach-Instituts
Anfang Februar 2012, zwei Wochen vor Wulffs Rücktritt, dass nur 39
Prozent der Befragten die Berichterstattung über den Bundespräsidenten als „angemessen" empfinden, 48 Prozent hingegen halten sie für
„übertrieben". Im ARD-Deutschlandtrend vom 6. Januar 2012, also
unmittelbar nach den verheerenden Kommentaren zu Wulffs TVInterview, geben 57 Prozent der Befragten an, dass die Medien Wulff
„fertigmachen" wollen. Die Ergebnisse der Meinungsumfragen sorgen
bei den Medien während der Krise für eine gewisse Ratlosigkeit. Zahlreiche Medien setzen deshalb auch auf Online-Umfragen, die völlig
andere, für Wulff wesentlich unvorteilhaftere Ergebnisse bringen. Nahezu auf allen Online-Angeboten von Zeitungen, Fernseh- und Rundfunksendern kann man per Mausklick darüber abstimmen, ob der
Bundespräsident zurücktreten soll oder nicht. Allerdings sind diese
Umfragen eben nicht repräsentativ. So beteiligen sich am Voting von
tagesschau.de 31.000 Teilnehmer, von denen Anfang Januar 89 Prozent
der Überzeugung sind, dass Wulff zurücktreten muss. Die OnlineVotings strahlen dabei eine hohe Überzeugungskraft aus, da sich so
viele daran beteiligen, im Unterschied zu repräsentativen Umfragen,
bei denen meist nur 1.000 Menschen befragt werden. Sie helfen aber
auch, die eklatante Schere zwischen Kommentarlage und öffentlicher
Meinung zu schließen.
Die sich rund um die Uhr drehende Medienwelt sorgt dafür, dass
Skandale konsequent fortgeschrieben werden. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass die 24-Stunden-Versorgung mit Nachrichten verlangt,
so oft wie möglich einen neuen Meldungsstand abzubilden. Die Konkurrenz zahlreicher Nachrichtenkanäle in Fernsehen und Rundfunk
sowie die mittlerweile große Zahl von Online-Nachrichtenportalen
führen dazu, dass der Druck enorm groß ist, im Wettbewerb des Nachrichtenmarktes ständig einen neuen, eigenen Akzent zu setzen und damit Aufmerksamkeit zu erregen. Die Qualität, sprich der Erfolg, eines
Online-Artikels ist im Unterschied zu anderen Medien anhand der
Klickzahlen exakt messbar. Gleichzeitig befinden sich die Online-Nachrichtenportale in Konkurrenz zu all dem, was sonst im Netz stattfindet: zu zahlreichen Blogs, die sich nicht nach journalistischen Kriterien richten und in denen fast nichts verboten ist. Der ökonomische Druck,
unter dem die Printmedien vor allem auch aufgrund der Konkurrenz
im Internet stehen, ist hinreichend bekannt. Der Wettbewerb innerhalb
der Medien, Exklusivgeschichten zu bringen, den sogenannten „Scoop"
zu landen, nimmt unaufhörlich zu. Gleichzeitig führt der Kostendruck
in den Redaktionen dazu, dass immer mehr Personal reduziert wird und
echte Recherche längst nicht mehr überall stattfindet. Das, was anderswo recherchiert wurde, wird oft genug einfach übernommen, ohne dass
man in der Lage wäre zu beurteilen, ob stimmt, was behauptet wird. Es
gibt eine wachsende Tendenz in den Medien, sich ständig aufeinander
zu beziehen. Den Wahrheitsgehalt einer Recherche kann dabei nur ein
ganz kleiner Teil beurteilen. Oft ist wichtiger, dass das eigene Angebot
den letzten nachrichtlichen Stand widerspiegelt.
Zu den Zerrbildern in den Wochen der Präsidentenkrise gehört, dass
bis dahin völlig unbekannte politische Akteure zu nie da gewesener
Berühmtheit gelangen und plötzlich als Sprachrohr ihrer Parteien erscheinen, ohne irgendein Mandat dafür zu haben. Da die Spitzen der
Parteien sich zurückhalten und von klaren Rücktrittsforderungen an
Wulff absehen, stürzen sich die Medien auf jeden, der bereit ist, Klartext zu reden - gleichgültig, ob die Meinung Gewicht hat oder nicht.
Dies gilt beispielsweise für den FDP-Bundestagsabgeordneten Erwin
Lotter. Er ist ohne jeden Einfluss in der FDP-Bundestagsfraktion, wird
in den Medien aber plötzlich zum Gesicht der FDP beim Thema Wulff,
weil er sich kritisch äußert. Da man bei der CDU noch länger darauf
warten muss, bis sich ein
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