Der böse Wulff?: Die Geschichte hinter der Geschichte und die Rolle der Medien
Strich gibt es in
den Medien im Juni 2010 eine klare Präferenz für Joachim Gauck.
Auffällig ist, dass die Debatte um den besseren Kandidaten in den
Medien sehr emotional geführt wird. Es gelingt Gauck regelrecht, die
Medien zu verzaubern. Er ist der „Kandidat der Herzen", wie es in
zahlreichen Medien heißt, Gauck wird förmlich als Heilsbringer gefeiert. Das ist insofern bemerkenswert, als Joachim Gauck mit seiner
Kandidatur im Juni zumindest für die breite Öffentlichkeit mehr oder
weniger aus dem Nichts kommt. Er ist schon seit Jahren in den Massenmedien nicht mehr präsent. Nur wenige stellen in diesen Wochen
die Frage, woher dieser Gauck-Rausch überhaupt kommt. Bemerkenswert ist auch, dass er nach der Präsidentenwahl bald wieder verpufft.
Erst auf dem Höhepunkt der Wulff-Krise im Januar 2012 wird der
„Kandidat der Herzen" wieder zum Thema und von den Medien als
Alternative zu Wulff präsentiert. Der Gauck-Rausch im Juni 2010 hat
zweifellos mit Gauck selbst zu tun, aber nicht nur. Gauck erscheint
in vielerlei Hinsicht als ideale Besetzung fürs Bellevue. Allein aufgrund seines Alters, er ist im Juni 2010 bereits 70 Jahre alt, erfüllt er
die Rollenerwartung an den Bundespräsidenten als eine Art „Vater
der Nation", im Gegensatz zu dem noch vergleichsweise jungen Christian Wulff, der erst 50 ist. Gerade in Krisenzeiten ist das ein Faktor: Wir leben in einer Zeit der permanenten Krise, nach der Krise am
Arbeitsmarkt beschäftigt uns die Krise der Sozialsysteme, aus der
Finanzkrise wird eine Eurokrise und schließlich eine Krise Europas,
in der die Menschen sich Orientierung wünschen. Diese Sehnsucht
schlägt sich auch auf die Rollenerwartung gegenüber dem Bundespräsidenten nieder.
Doch auch ganz persönliche Faktoren, die mit Joachim Gauck
zusammenhängen, spielen eine Rolle: Die Macht des Bundespräsidenten ist die Macht des Wortes und in der Kunst der Rede ist Gauck
in einer eigenen Liga unterwegs - im Gegensatz zu Christian Wulff,
der allenfalls ein mittelmäßiger Redner ist. Außerdem entspricht er
dem weitverbreiteten Wunsch nach einem überparteilichen Präsidenten - er wäre der erste Präsident, der vorher kein Parteibuch gehabt
hätte. Gauck bringt die moralische Autorität, die das Amt nach Köhlers Rücktritt dringend braucht, schon mit, er muss sie sich nicht erst
erarbeiten. Er erscheint als jemand, der sich das Präsidentenamt als
Krönung seines Lebenswerkes verdient hat. Doch die Präferenz für
Gauck hat nicht nur mit Gauck zu tun, sondern auch mit der kritischen Distanz zu einer Kanzlerin und ihrer Regierung, die sich permanent mit sich selbst beschäftigt. Dass Merkel nun gerade die Wahl
des Bundespräsidenten nutzen will, um ihre angeschlagene Autorität
wiederherzustellen, erscheint deplatziert, zumal das Amt selbst nach
Köhlers Rücktritt in seiner bisher schwersten Krise steckt.
Merkels Entscheidung für Wulff ist außerdem ein klassischer Fall
von Hinterzimmer-Politik, die in Zeiten, in denen ununterbrochen
nach mehr Transparenz und Bürgerbeteiligung gerufen wird, einen
Politikstil verkörpert, der mehrheitlich abgelehnt wird. Merkel vermittelt den Eindruck, die Frage, wer Bundespräsident wird, wie eine
Kabinettspersonalie entscheiden zu können. Selbst die Führung ihrer
eigenen Partei bindet die CDU-Chefin in die Kandidatensuche nicht
ein. „Die Wahl, die keine ist", titelt der Spiegel zwei Tage vor der Präsidentenwahl und bringt die Wahrnehmung auf den Punkt. Auch
die im Laufe des Monats immer wieder gestellte Frage, ob eine Direktwahl des Bundespräsidenten nicht besser wäre, ist Ausdruck dieser Stimmung. Dabei spielt keine Rolle, dass der Vorgang an sich
überhaupt nichts Neues ist: Bundespräsidentenwahlen sind in der
Geschichte der Bundesrepublik immer wieder partei- und machtpolitisch behandelt worden.
Abgesehen von den Umständen spielt aber auch der Kandidat selbst
eine Rolle: Mit Christian Wulff tritt in der Wahrnehmung der Medien einer an, der zwar als Ministerpräsident objektiv die Voraussetzungen erfüllt, Staatsoberhaupt zu werden, sich aber nicht die moralische
Autorität erworben hat, die man sich bei einem Bundespräsidenten
wünscht. „Christian wer...?", kommentiert die Financial Times Deutschland die Nominierung von Wulff, und die Berliner tageszeitung stellt
fest, dass Wulff der einzige Kandidat sei, „den gar nichts für dieses
Amt qualifiziert". Gleichzeitig wird deutlich, dass der Typus des
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