Der böse Wulff?: Die Geschichte hinter der Geschichte und die Rolle der Medien
Juni 2010 regelrecht. Gauck wird als „unabhängiger, intellektueller Kraftmensch" beschrieben und als „einer
der Revolutionäre, die das sozialistische System in die Knie gezwungen
haben". Unterm Strich kommt der Spiegel seinerzeit zu der Einschätzung, „die Sympathien dürften wohl bei Gauck liegen. Politiker genießen kein hohes Ansehen in der Bevölkerung."
Bemerkenswert ist, dass sich neben dem Spiegel auch der überwiegende Teil der konservativen Presse im Juni 2010 auf die Seite von
Joachim Gauck und gegen den CDU-Ministerpräsidenten Christian
Wulff stellt. Die Gründe dafür sind unterschiedlich. Der SpringerVerlag verfolgt keinen einheitlichen Kurs. Während die Bild-Zeitung,
die seit Jahren ein enges Verhältnis zu Wulff hat, sich neutral bis pro
Wulff positioniert, bekennt sich die Bild am Sonntag als erste Zeitung
überhaupt eindeutig zu Gauck mit dem Titel „Yes we Gauck", in
Anlehnung an den Wahlkampfslogan von US-Präsident Obama.
Auch Die Welt und die Welt am Sonntag schlagen sich auf die Seite
von Gauck. Dass die Bild-Zeitung sich für einen Wulff-freundlichen
Kurs entscheidet, hat gute Gründe. Wulffs Verhältnis zur Bild-Zeitung ist nach seinem Rücktritt 2012 wissenschaftlich von der gewerk schaftsnahen Otto-Brenner-Stiftung untersucht worden. Die Fallstudie mit dem Titel „Bild und Wulff- Ziemlich beste Partner" von
Hans-Jürgen Arlt und Wolfgang Storz arbeitet heraus, wie das Verhältnis zwischen Wulff und Bild über Jahre hinweg kein Wässerchen
trüben kann, es mit der Berichterstattung über die Hausfinanzierung
der Wulffs im Dezember 2011 dann aber zum Bruch kommt. Dass
Bild sich in den Wochen vor der Präsidentschaftswahl entscheidet,
Wulff zu unterstützen, ist aus Sicht des Blattes nur konsequent. Die
Studie von Arlt und Storz geht von einer Art „Geschäftsbeziehung"
zwischen Wulff und Bild aus, die dazu führt, dass Bild Wulff über
Jahre hinweg „hochjubelt". Bei Bildverspricht man sich im Juni 2010
offenbar mehr davon, den absehbar künftigen Präsidenten zu unterstützen und sich dadurch den Zugang zu exklusiven Geschichten aus
dem Bellevue zu sichern.
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung vermeidet eine offene Parteinahme für einen der Präsidentschaftsbewerber, lässt jedoch immer
wieder klare Sympathien für Joachim Gauck erkennen, vor allem im
Feuilleton, in dem Mitherausgeber Frank Schirrmacher die Linie vorgibt. Gauck ist „der bürgerliche Held, auf den das Land wartet", heißt
es dort. Hingegen fremdelt das mediale Flaggschiff des bürgerlichkonservativen Lagers erkennbar mit den Wulffs aus Hannover. Christian Wulff und nicht zuletzt seine Frau vermögen die Rollenerwartung
der Zeitung an einen Bundespräsidenten offenbar nicht zu erfüllen.
Ein vergleichsweise junger Präsident, dazu ein Karrierist und Emporkömmling, das Lebensmodell Patchworkfamilie, die noch viel jüngere, gar tätowierte Frau an seiner Seite, das alles scheint Christian Wulff
für das höchste Amt im Staat nicht gerade zu qualifizieren. Selbst im
Politikteil setzt sich die FAZ mit dem Tattoo der First Lady auseinander, sogar noch nach der Wahl Wulffs zum Bundespräsidenten. „Wie
viel geritzte Haut verträgt das Schloss Bellevue?", fragt die Zeitung
am 4. Juli 2010. Selbst wenn der Bundespräsident es „cool" finde,
bleibe das Tattoo seiner Frau ein „Import aus der Unterwelt". In einem
historischen Exkurs erfährt der Leser schließlich: „Früher hatten Gesellschaften eine Zone der Ausgeschlossenen, in denen Verbrecher, Sträflinge, Zuhälter, Nutten, Hafenarbeiter, Seeleute, Vagabunden ihr
gegenbürgerliches Zuhause hatten; die Mehrheit kam mit dieser Zone
normalerweise nicht in Berührung. Dort erkannte man sich an den
Tätowierungen. Die Halb- und Unterwelt grenzte sich so von der
bürgerlichen Mehrheit ab; die Tätowierungen stellten aber auch sicher,
dass keiner in die Mehrheitsgesellschaft abwandern konnte." Und nun
sitzt tatsächlich eine Tätowierte im Bellevue.
Die Süddeutsche Zeitung hingegen stellt Anfang Juli nüchtern fest,
dass Bettina Wulff nicht nur die jüngste, sondern auch die erste tätowierte Präsidentengattin werde - „und das ist gut so", schließlich sei
das Tattoo ein „Massenphänomen". Ähnlich klar wie der Spiegel positioniert sich die Süddeutsche Zeitung zugunsten von Joachim Gauck,
weil sie ihn für die bessere Wahl hält. Auch der Stern spricht sich für
Joachim Gauck aus, genauso wie der Focus. Unterm
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