Der böse Wulff?: Die Geschichte hinter der Geschichte und die Rolle der Medien
auch „im Namen von Herrn Steinmeier, Frau Künast
und Herrn Trittin die Unterstützung von SPD und Bündnis 90/Die
Grünen anbieten". Er gehe davon aus, textet Gabriel der Kanzlerin,
dass dieser Vorschlag vertraulich bleibe, allerdings sei Joachim Gauck
„natürlich informiert". Gauck halte, so wie die SPD und die Grünen
auch, „eine eher überparteiliche Kandidatur für sinnvoll und stünde
dafür bereit". Für Gespräche stehe man jederzeit zur Verfügung,
schließt Gabriel seine Nachricht. Die Kanzlerin reagiert anderthalb
Stunden später ebenfalls per SMS: „Danke für die Info und herzliche
Grüße AM." Merkel lässt Gabriel abblitzen. Der SPD-Chef entscheidet sich daraufhin, den SMS-Verkehr mit der Kanzlerin an die Medien weiterzugeben.
Bei den Grünen kommt das Manöver gar nicht gut an. „Dass Gabriel Merkel den Vorschlag per SMS übermittelt hat, war keine gute
Idee", sagt Künast im Oktober 2012 in ihrem Büro im Bundestag und
schüttelt den Kopf. Zwar war mit Gabriel abgesprochen, dass er der
Kanzlerin Gauck als Kandidaten vorschlagen sollte, aber nicht so. Tatsächlich kann man sich über das Vorgehen nur wundern. Gabriel
nimmt damit in Kauf, dass Gaucks Kandidatur vom ersten Moment
an als taktisches Manöver erscheint. Zudem macht er es der Kanzlerin
sehr einfach, den rot-grünen Kandidatenvorschlag abzulehnen. Bei
den Grünen argwöhnt man seinerzeit sogar, Gabriel habe möglicher weise gar kein Interesse daran, dass Merkel sich auf Gauck einlässt.
Merkel wiederum habe ihrerseits die Präsidentenfrage ausschließlich
machtpolitisch behandelt, ist die Grüne Künast überzeugt, und die
Nominierung von Wulff genutzt, um einen innerparteilichen Konkurrenten kaltzustellen. „Das war pures Machtkalkül: Sie wollte Wulff
loswerden, er war der Letzte, der noch übrig war", sagt Künast. Dabei
hätte alles so einfach sein können, meint sie in der Rückschau, schließlich habe Gauck immer gesagt, dass er auch ein Konservativer sei: „Sie
hätte ihn einfach für sich reklamieren können." Doch Merkel entscheidet sich anders, und auch bei den Grünen mag man bezweifeln, dass
die Entscheidung für Gauck völlig frei von parteitaktischen Überlegungen gewesen ist: Denn nach dem Rücktritt von Christian Wulff
im Februar 2012 steht der Name Gauck plötzlich nicht mehr ganz
oben auf der grünen Namensliste. Im Juni 2010 entscheiden sich beide politischen Lager, das schwarz-gelbe wie das rot grüne, die Präsidentenfrage zur Machtfrage zu erklären. Unter diesem Gesichtspunkt
ist die Nominierung von Gauck zweifellos ein genialer Schachzug,
denn wie kaum ein anderer ist er in der Lage, das Regierungslager zu
spalten. Während Angela Merkel die Präsidentenfrage nutzen will, die
Handlungsfähigkeit und Geschlossenheit ihres schwarz-gelben Bündnisses unter Beweis zu stellen, ist Rot Grün entschlossen, den Gegenbeweis anzutreten.
Am Donnerstagnachmittag ruft Merkel Christian Wulff an. Wulff
ist zu diesem Zeitpunkt auf einer Veranstaltung in Cuxhaven. Die
Kanzlerin fragt ihn, ob er später am Tag nach Berlin kommen könne.
Zuvor informiert Merkel am Mittag ihre Koalitionspartner, CSU-Chef
Horst Seehofer und FDP-Chef Guido Westerwelle, dass sie sich für
Wulff entschieden habe. Seehofer und Westerwelle stimmen zu. Aus
Sicht der Kanzlerin gibt es ein ganzes Bündel guter Gründe, die für
Wulff sprechen. Merkel will die Präsidentenwahl nutzen, um einen
Kontrapunkt in der Debatte über das desolate Erscheinungsbild ihrer Koalition zu setzen. Die Wahl von Wulff soll eine Demonstration von
Merkels Autorität sein. Wulff ist ein Kandidat mit einem klaren
schwarz-gelben Profil, da er in Niedersachsen eine Koalition aus CDU
und FDP anführt. In der FDP-Führung gibt es in Gestalt von Philipp
Rösler einen starken Verfechter von Wulffs Kandidatur. Rösler und
Wulff kennen sich aus Hannover, wo Rösler zunächst Fraktionschef
der FDP im Landtag war und dann Wirtschaftsminister im Kabinett
Wulff, auch Stellvertreter des Ministerpräsidenten. Die beiden sind
befreundet und vertrauen einander.
Mit Wulff präsentiert Merkel im Juni 2010 außerdem einen vergleichsweise jungen Präsidentschaftskandidaten, von dem sie glaubt,
dass er das moderne Deutschland verkörpern kann. Wulff gilt als Vertreter der modernen CDU und hat in vielerlei Hinsicht eine Beziehung
zu aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen: mit einer Patchworkfamilie im Hintergrund, mit seinen liberalen
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