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Der Boss

Der Boss

Titel: Der Boss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Netenjakob
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die türkische Sprache stehe, war ich leider gezwungen, auf diese klischeehafte Begrüßungsformel zurückzugreifen, und muss den Rest meiner gut zwanzigminütigen Rede nun auf Deutsch halten.«
    Zwanzig Minuten? O neeeeeeiiiiiiiiiiiiiiiiiiinnnnnnnnnn!!!!
    »Zunächst einmal möchte ich darauf hinweisen, dass, obwohl die Türken bekanntlich nicht zu den verfolgten Minderheiten im Dritten Reich gehörten, …«
    Mist, jetzt habe ich nicht gestoppt. Dabei waren es höchstens zwanzig Sekunden, das wäre neuer Rekord bei Festreden!
    »… mir bewusst ist, dass die muslimische Minderheit in Deutschland zum Teil erheblichen Diskriminierungen ausgesetzt wird …«
    Da ist es, das Moslem-Thema. Das ist mein Stichwort! Mein Magen krampft sich zusammen: Die Zeremonie war eine sympathische kleine Lüge für die Familie. Jetzt wird es Zeit für die Wahrheit. Ich stürme auf die Bühne und nehme meinem Vater das Mikrofon aus der Hand:
    »Entschuldigung, Rigobert, aber ich muss eine kurze Zwischenansage machen.«
    Mein Vater schaut mich irritiert und leicht beleidigt an.
    »Tja, da mein Vater das Thema gerade angeschnitten hat, möchte ich euch jetzt noch etwas mitteilen.«
    Alle schauen mich erwartungsvoll an. Ich kann meinen Puls hören – er hat den Takt von Speed-Metal angenommen. Was ist der Preis meiner Ehrlichkeit? Bald werde ich schlauer sein. Mein Mund wird trocken.
    »Ich möchte zunächst einmal betonen, wie dankbar ich dafür bin, dass mich die Familie Denizo ğ lu und die gesamte Verwandtschaft so herzlich aufgenommen haben. Allerdings gibt es etwas, das mich in den letzten Tagen gequält hat, und zwar … also, ich habe euch nicht die Wahrheit gesagt. Und die Wahrheit ist: Ich bin kein Moslem.«
    Totenstille im Saal – nur das Gurren einer Taube, die sich in den Saal verflogen und in einer orangen Tüllbahn verheddert hat, ist zu hören.
    »Und außerdem bin ich auch kein Kriegsheld.«
    In die Augen meines Vaters tritt eine völlige Leere. Offensichtlich kann er meine Sätze nicht in das ihm bekannte Universum einordnen. Aber das ist mir im Moment egal:
    »Die Urkunde war ein Gag, den sich meine Kollegen ausgedacht haben.«
    Ich höre Karls Lache und sehe ihn an einem Tisch mit Ulli, Lysa, Kleinmüller und Emine. Ansonsten eisiges Schweigen. Hunderte Türken starren mich ungläubig an. Ich schaue zu Aylin, die mir zulächelt und aufmunternd nickt, obwohl auch sie angespannt ist. Ich weiß nicht mehr, was ich sagen soll, und gebe das Mikro meinem Vater zurück, der verwirrt hineinstammelt:
    »Nun, das … äh … was … also … Kriegsheld?«
    In diesem Moment sehe ich, dass Cem zur Bühne kommt. Will er seine Hochzeit ankündigen? Diesmal ist er es, der meinem verdutzten Vater das Mikro aus der Hand nimmt:
    »Ich habe euch auch etwas zu sagen. Eigentlich wollte ich jetzt meine Verlobung mit Fatma bekannt geben. Aber Daniels Mut hat auch mir Mut gemacht, zur Wahrheit zu stehen. Und die Wahrheit ist: Ich bin schwul.«
    Fassungslosigkeit im Saal. Chrístos schreit spitz auf und zieht die Blicke auf sich. Herr und Frau Denizo ğ lu strahlen eine ähnliche Begeisterung aus wie beim Nacktauftritt von Ingeborg Trutz. Aber Cem ist noch nicht fertig.
    »Und ich habe eine Beziehung mit einem Griechen.«
    Frau Denizo ğ lu sackt ohnmächtig in sich zusammen und kommt erst wieder zu sich, als ihr Mann eine halbe Kolonya – Flasche in ihr Gesicht gespritzt hat. Ihre Schnappatmung ist außer der kreischenden Taube, die jetzt von einem Tüllschleier umhüllt auf das Schlagzeug kracht, das einzige Geräusch im Saal. Die Zeitdehnt sich. Es scheint wie die Ruhe vor dem Sturm, die nur von Oma Berta kurz unterbrochen wird:
    »Warum sind denn alle so ruhig? Ist schon wieder Fliegeralarm?«
    Weiterhin angespannte Stille. Ich habe keine Ahnung, was hier gleich losbricht. Als ich gerade fürchte, dass der dritte Weltkrieg in diesem Saal seinen Anfang nehmen könnte, fängt irgendwer lauthals an zu lachen. Dann stimmen mehrere mit ein. Schließlich lacht der ganze Saal. Cem kann es nicht fassen:
    »Nein, ehrlich. Ich bin schwul, und mein Freund ist Grieche.«
    Es folgen geradezu hysterische Lachstürme. Cem und ich gucken uns ratlos an. Aylin zuckt mit den Schultern und fängt dann auch an zu kichern. Onkel Mustafa stürmt auf die Bühne und reißt das Mikro an sich:
    »Und ich wurde entführt von Außerirdischen.«
    Jetzt ist der Saal nicht mehr zu halten. Ohrenbetäubende Lacher, Pfeifen und Applaus. Ich beginne zu begreifen.

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