Der Boss
genau wie ich Teil einer Menge von 400 hysterisch-besorgten Türken, die sich durch die viel zu kleine Eingangstür des Herzzentrums quetscht. Ich werde mit einem solchen Druck an Onkel Mustafa gepresst, dass ich mit meinem Brustkorb seinen Puls messen kann. Da dieser mindestens 180 beträgt, versuche ich ihn ein wenig abzulenken:
»Das war gut eben. Von Außerirdischen entführt … Super-Idee.«
»Was heißt Idee? Ich wurde wirklich entführt von Außerirdischen.«
»Ah. Ach so. Ja dann, äh … Okay.«
Als wir endlich im Foyer sind, stürmt Aylins Familie die Treppe hoch, während ich – offenbar habe ich meinen deutschen Ordnungssinn doch noch nicht überwunden – mich erst mal zum Info-Schalter begebe. Dort sitzt zu meiner großen Überraschung: Hermann Töller.
»Herr Töller – waren Sie nicht gerade noch bei unserer Hochzeitsfeier?«
»Tja, isch hab Dienst ab 22 Uhr, da musste isch schon nach zehn Efes weg. Aber dat ihr extra für misch die Feier verlegt – dat wäre doch nit nötisch jewesen. Hahaha, kleiner Spaß, muss auch mal sein.«
»Wo liegt denn Frau Kılı ç daro ğ lu jetzt?«
»Wer ist denn Frau Kılı ç … ach, Sie meinen Tante Emine?!«
»Ja.«
»Zimmer 347. Aber isch glaube, da kommense heute schwerer rein als in die Lachende KölnArena … Wobei, da kann isch Ihnen noch Karten besorgen, kein Thema, weil mein Schwager, der Willibert, der kennt ja den Jupp von den Roten Funken, und der ist mit dem Schlagzeuger der Höhner befreundet, dem Janus Fröhlisch …«
Ich zucke mit den Schultern und eile in den dritten Stock, wo ich nicht lange nach dem Zimmer suchen muss, weil der Gang voller Familienmitglieder ist und es weder vor noch zurück geht. Aylin steckt zehn Meter näher am Zimmer zwischen ihrem Vater und Tante Ay ş e fest, während ihre Mutter ihr von hinten Kolonya in den Nacken spritzt.
Aylins Cousine Ay ş e sieht uns:
»Aylin, Daniel – Tante Emine will euch sehen.«
Nun teilt sich die Familie vor uns wie das Rote Meer vor Moses, und unzählige Arme schieben uns zu Zimmer 347. Es ist ein surreales Erlebnis, in einem sterilen engen Korridor durch eine hysterische türkische Hochzeitskostümparade geschoben zu werden. So ungefähr müssen sich die Pferde im Kölner Rosenmontagszug fühlen. Als Aylin und ich das Zimmer betreten, verlassen Emines Töchter Orkide und Gül sowie ihr Sohn Kenan sofort den Raum und lassen uns mit ihrer Mutter allein. Aylin stürzt besorgt zu ihrer Tante:
»Teyze, ne oldu? Nasılsın? Ben ç ok korktum!«
Anmerkung
Tante Emine lächelt milde.
»Mache keine Sorgen, Kinder! Setzt euch.«
Aylin und ich nehmen uns zwei Stühle und platzieren uns neben dem Bett. Tante Emine nimmt Aylins Hand:
»Meine Kinder, ich kenne unsere Familie. Macht immer viel Stress. Und waren alle sehr aufgeregt wegen meine Herzinfarkt, deshalb noch mehr Stress. Dann ich habe zu Gül gesagt: Wenn gibt Problem auf Hochzeit, du musst sagen, ich habe Rückfall, damit alle werden wieder vernünftig.«
Ich bin fassungslos:
»Also hast du gar keinen Rückfall?«
»Nein.«
»Aber die Familie macht sich große Sorgen.«
»Werden schon sehen, dass ich sterbe nicht. Ist gut, wenn machen sich bisschen Sorgen, dann sehe ich, ich bin nicht egal für sie.«
Tante Emine lacht. Aylin seufzt erleichtert und weint:
»Seni ç ok seviyorum Teyze.«
Anmerkung
Ich weiß nicht genau, warum, aber auch meine Augen werden feucht:
»Danke, Tante Emine, dass du für uns einen Rückfall vorgetäuscht hast. Ich bin mir zwar nicht sicher, ob ich deine Methode weiterempfehlen kann, aber ich weiß, du hast es für uns getan.«
Nachdem Tante Emine meine Wange geschüttelt und mein Kinn gezwickt hat, nimmt sie meine Hand:
»Daniel … Mein Kinder haben erzählt, dass du hast gemacht Witz auf Hochzeitsfeier. Hast gesagt, du bist kein Moslem. Sag mal … bist du jetzt Moslem oder nicht?«
Ich lächle Tante Emine an. Ich spüre, dass sie mich in ihr Herz geschlossen hat. Als Moslem? Oder als Daniel? Ich gucke ihr tief in die Augen.
»Ist das wirklich wichtig?«
Sie drückt meine Hand fester.
»Nein.«
Vor dem Zimmer hat sich die Familie inzwischen ein wenig beruhigt, weil die Kaffeesatzlese-Emine gerade im Kaffeesatz gelesen hat, dass Herzinfarkt-Emine außer Gefahr ist. Trotzdem steht ihnen der Schock noch in die Gesichter geschrieben.
Als ich am Ende des Korridors Prof. Dr. Meyer erblicke, denke ich, dass es nicht schaden kann, wenn auch er die Wahrheit erfährt.
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