Der Boss
Ich kämpfe mich zu ihm durch:
»Prof. Dr. Meyer? Ich wollte nur sagen, dass Frau Kılı ç daro ğ lu … also sie hat nur …«
Plötzlich denke ich: Er ist Arzt. Er wird die Wahrheit schon selbst herausfinden. Aylins Familie hat bisher mit ihrem Verhalten überlebt, und ich kann das auch einfach mal so stehen lassen. Prof. Dr. Meyer erkennt mich nicht wieder und schaut mich irritiert an:
»Gehören Sie zur Familie?«
Also was jetzt? Gehöre ich zu diesen Menschen? Die einen Herzanfall vortäuschen, um einen Streit zu beenden? Die die Zufahrt zum Krankenhaus blockieren, um schneller bei ihrer Tante zu sein? Die innerhalb einer Zehntelsekunde hysterisch werden können und für die die Wahrheit nicht mehr ist als eine mögliche Option unter vielen? Vor einer Woche konnte ich diese Frage nicht beantworten.
Aber jetzt sehe ich Aylin, die mir verliebt zulächelt. Ich sehe, wie sich Frau Denizo ğ lu zum hundertsten Mal eine Ladung Kolonya ins Gesicht klatscht, und muss an die innige Umarmung von vorhin denken; und dass sie mich als ihren Sohn bezeichnet, obwohl sie meinetwegen die Schamhaare von Ingeborg Trutz sehen musste. Dann fällt mein Blick auf Herrn Denizo ğ lu und Onkel Abdullah, die sich gegenseitig aufmunternd auf den Rücken klopfen und mir dann mit traurigem Blick zulächeln. Ich schaue auf Aylins Bruder Cem, auf die Cousinen, Cousins, Tanten und Onkel, die aus einem einzigen Grund heute hier sind: Sie sind eine Familie. Sie sind zwar bescheuert und treiben sich gegenseitig in den Wahnsinn, aber in der Krise halten sie zusammen.
Vielleicht werde ich sie niemals zu 100 % verstehen. Vielleicht werden auch sie nie ganz begreifen, was ich denke und fühle. Warum ich meine Zlatko-Skala brauche, gelegentlich mit der Stimme von Udo Lindenberg rede und Angst habe, meine eigene Unterschrift nicht hinzukriegen, wenn sie bei einer EC -Cash-Zahlung verlangt wird.
Aber ich habe mit diesen Menschen ein seltsames Weihnachtsfest, zwei Hochzeitsabsagen, einen Herzinfarkt, mehrere Nahtoderfahrungen im Auto, eine Dimiter-Zilnik-Inszenierung, die Rede meines Vaters, mein Outing als Nicht-Moslem und Nicht-Kriegsheld, Cems Outing als schwuler Liebhaber eines Griechen, einePrügelei und einen vorgetäuschten Rückfall überstanden, und wir lieben uns immer noch – was bitte kann uns jetzt noch erschüttern?
Ich weiß, jeder Tag mit ihnen wird ein Abenteuer werden. Es wird nicht alles so laufen, wie ich es mir wünsche. Es wird auch nicht alles so laufen, wie sie sich das wünschen. Aber geht es nicht auch darum in der Liebe? Dass man Unterschiede zulässt und nicht versucht, den anderen zu verbiegen?
Ich lächle Aylin zu und wende mich wieder an Prof. Dr. Meyer. Meine Stimme ist klar und selbstsicher, als ich sage:
»Die Antwort ist ›ja‹. Ja, ich gehöre zur Familie.«
ENDE
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Dank
Danke
An erster Stelle will ich mich von ganzem Herzen bei meiner Frau Hülya bedanken. Wenn man als Autor eine Türkin mit Dramaturgieausbildung heiratet und dann Romane über die türkische Kultur schreibt, könnten einem missgünstige Menschen Berechnung unterstellen. Zumal Hülya mit einer seltenen Kombination aus Fachverstand, Liebe, guten Ideen und Instinkt meine wertvollste Beraterin war und ist. Sie besitzt außerdem die Gabe, den Finger immer genau in die Wunde zu legen, wofür man sie im ersten Moment umbringen, aber nur wenige Minuten später küssen will. Außerdem hat sie jeden Gag als Erste gehört und meine Arbeit durch zahlreiche Lachanfälle zu einem Vergnügen gemacht. Ohne sie würde es dieses Buch nicht geben. Aber ich schwöre: Als ich mich in sie verliebte, hatte ich keine Hintergedanken.
Ein großer Dank gilt meinem Lektor Martin Breitfeld. Niemand auf diesem Planeten kann Kritik so vorsichtig formulieren und doch exakt dort eingreifen, wo es nötig ist. Wenn irgendein Mensch das Zeug hat, den Nahostkonflikt zu lösen, dann er.
Außerdem danke ich Juliane Schindler für ihre Korrekturen und dem gesamten Team von Kiepenheuer & Witsch. Besonders erfreulich fand ich wieder einmal die Zusammenarbeit mit der Grafik-Abteilung, die in der Cover-Frage sehr flexibel reagiert hat.
Heike Schmidtke vom Argon Verlag hat ebenfalls wertvolle Hinweise geliefert. Danke!
Für seine dramaturgischen Tipps bedanke ich mich bei Roger Schmelzer und fordere hiermit jeden Produzenten oder Redakteur, der das liest, auf, Herrn Schmelzer unverzüglich um Rat zu fragen. Der deutsche Film könnte so viel
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