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Der Boss

Der Boss

Titel: Der Boss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Netenjakob
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erblicke, die mit Dimiter Zilnik, Ingeborg Trutz und Oma Berta bereits an einem der riesigen Tische Platz genommen haben. Im Vergleich zu den gestylten türkischen Gästen wirkt mein Vater mit seinem Cord-Jackett fast wie ein Obdachloser – meine Mutter scheint in ihrem beigefarbenen Hosenanzug von einem anderen Planeten zu stammen als die wandelnden türkischen Farbexperimente. Als sie mich sieht, springt sie auf und umarmt mich:
    »Ich freue mich ja so, dass ihr’s euch anders überlegt habt! Was war denn los? Warum habt ihr euch denn gestritten? Und wie habt ihr euch versöhnt? Und wo? Was hast du überhaupt gegen die türkische Familienkultur gesagt? Ach, Schwamm drüber, du, ich glaube, du hast dich erkältet, deine Nase ist ganz rot. Aber die Halle hier ist ja umwerfend, das wirkt wie eine postmoderne Pop-Art-Parodie. Also, wenn man’s unter satirischem Blickwinkel sieht – phantastisch!«
    Wie mir Aylin auf der Fahrt erzählte, hat Cem die komplette Ausstattung vom ersten Mal aus Rheda-Wiedenbrück zurückgekauft, während Kenan gleichzeitig bei eBay das Zubehör einer großen Christopher-Street-Day-Party ersteigert und Frau Denizo ğ lu ein Tüll-Lager in Köln-Kalk leergekauft hat. So war plötzlich die dreifache Menge an Deko-Material da, und es wurde alles verwendet.
    Ich schaue mich zum ersten Mal in Ruhe um: Es sieht aus, als wäre Bayern-König Ludwig   II . wiederauferstanden, weil ihm Schloss Neuschwanstein nicht kitschig genug war, und hätte die Ausstatter von Disney World mit dem Ästhetik-Komitee des Sissi-Fanclubs zusammengebracht, um gemeinsam den schwulsten Raum aller Zeiten zu erschaffen. Das Lichtkonzept besteht aus einer Kombination aus mit rosa Folie zugeklebten Neonröhren und der kompletten Jahresproduktion einer chinesischen Lichterkettenfabrik. Die Tische quellen über vor roten, goldenen, weißen und silbernen Tüchern, Kerzen in allen denkbaren Farben und Formen (darunter die lustigen Tier-Kerzen aus London) und Deko-Kitsch wie glitzernde Rehe, rosa Gartenzwerge und orientalisch geformte silberne, goldene und bronzene Vasen, in die künstliche, mit Glitzerspray überzogene Blumen gesteckt wurden. Wände und Decke sind hinter mehreren Schichten Tüll verborgen, und die letzten freien Millimeter werden von Flachbild-Monitoren ausgefüllt, auf denen man das Treiben in anderen Ecken der Halle bewundern kann – die gesamte Feier wird nämlich, das hat Kenan organisiert, parallel mit fünf fest installierten und drei Handkameras gefilmt, an einem Mischpult geschnitten, auf die Monitore gespielt sowie über den Hochzeitssender Dü ğ ün TV live in die Türkei übertragen und kann nachder Feier für 39 Euro auf DVD sofort mitgenommen werden. Auf einer Bühne, die aussieht wie die Kulisse für Captain Cook und seine singenden Saxofone beim Grand Prix der Volksmusik, sitzen sechs Musiker an fünf Keyboards und einem Schlagzeug, trinken Tee, und drücken alle zehn Sekunden irgendeine Taste, die bewirkt, dass der orientalische Klangteppich, der die ganze Zeit durch den Saal wabert, eine neue Nuance bekommt.
    Jetzt wendet sich Oma Berta an mich:
    »Gut, dass du kommst, Daniel. Gleich spricht der Führer.«
    »Berta, der Führer ist seit über sechzig Jahren tot.«
    »Wie, der ist tot? Der hat gestern noch eine Fernsehansprache gehalten.«
    »Berta, das war nur ein Film, in dem Bruno Ganz Hitler gespielt hat.«
    »Der hat den Führer gespielt? Au weia! Wenn das rauskommt, wird der bestimmt erschossen.«
    Während mein Vater seine Mutter beiseitenimmt und ihr erklärt, in welchem Jahr wir uns befinden, umarmt mich Ingeborg Trutz theatralisch:
    »Daniel, ich gratuliere dir – du, der Raum ist phantastisch, phan-taaaas-tisch. Also, es macht mich zwar traurig, wenn ich daran denke, dass man mit dem Geld, das diese Feier kostet, mindestens 1000 Katzen retten könnte, aber lass dir davon nicht die Freude verderben – du hast es dir verdient. Ich fühle eine gaaaaanz intensive positive Energie, wenn ich an dich und Ay ş e denke!«
    »Aylin.«
    »Hab ich Ay ş e gesagt? Hach, mein Gehirn ist durchlöchert wie die Mauern von Sarajevo im Jugoslawienkrieg.«
    Es ist schwer, das Bild der nackten Ingeborg aus dem Kopf zu kriegen, auch wenn sie heute ein Kleid aus aneinandergenähten Stoffresten trägt – die künstlerisch ambitionierte Variante eines Lappenclown-Kostüms. Dimiter Zilnik hat die 1,5-Promille-Grenze noch nicht erreicht und sagt insofern erst mal gar nichts, sondern versucht, sein

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