Der Boss
Ein Outing braucht zwei Seiten: eine, die sich outet, und eine, die dafür bereit ist.
Als sich das Lachen langsam wieder beruhigt, nimmt mein Vater das Mikrofon wieder an sich und wirkt verwirrt:
»Nun, ich nehme an, dass das Sich-Outen auf Hochzeiten eine türkische Tradition darstellt, die mir allerdings bis heute nicht … äh … aber um auf mein Thema zurückzukommen: Gerade aufgrund unserer Geschichte als Deutsche bin ich, also sind wir , also Erika und ich … wobei das ›Wir‹ in diesem Falle einen Gesinnungskonsens in dieser historisch so wichtigen Frage ausdrücken soll und nicht etwa das blinde Verschmelzen der Meinung innerhalb einer Ehe, wie es in unemanzipierten Verhältnissen … egal. Auf jeden Fall … äh, tut mir leid, ich bin ein bisschen verwirrt, von äh … Daniel, warum hast du gesagt, dass du kein Moslem bist? Egal, zurück zum Thema …«
Niemand hört meinem Vater zu. Überall wird jetzt aufgeregt getuschelt. Plötzlich brechen an einem der Familientische wilde Diskussionen los. Offensichtlich hat sich irgendeine Tante neben irgendeine andere Tante gesetzt, die mit ihr nicht mehr spricht. Innerhalb von Sekunden bilden sich Fronten, und ein Tumultentsteht: Mehrere Männer wollen schlichten und geraten dabei aneinander, werden von anderen Männern festgehalten, die dann ihrerseits aufeinander losgehen wollen. Mein Vater kriegt von alldem nicht mal ansatzweise etwas mit:
»… und obwohl Hitler eine gewisse Sympathie für Atatürk und die Türkei gehegt hat, sehe ich die Ehe zwischen Daniel und Aylin nicht in dieser Tradition, sondern, äh, in einer neuen Form der deutsch-griechischen Freundschaft … also, äh … ich meine natürlich die deutsch- türkische Freundschaft … nun ja …«
Die Aufmerksamkeit von Herrn Denizo ğ lu ist zu 100 % von der drohenden körperlichen Auseinandersetzung am Familientisch absorbiert, sodass er den Griechen-Fauxpas erst beim gemeinsamen Anschauen der Hochzeits- DVD zu sehen bekommen wird – ich freue mich jetzt schon drauf. Als der erste Mann gegen einen Tisch geschubst wird und mehrere Teller krachend auf dem Boden landen, riecht es nach Massenschlägerei, bis Aylins Cousine Gül zur Bühne rennt und mittlerweile die Vierte ist, die meinem verdutzten Vater das Mikro aus der Hand reißt:
»Wir müssen schnell in die Uniklinik – meine Mutter hatte einen Rückfall.«
Nach einer kurzen Schrecksekunde stürmen gut 400 der 1200 Hochzeitsgäste unter hysterischem Gezeter zum Ausgang und rennen sich dabei fast gegenseitig über den Haufen. Die Kaffeesatzlese-Emine, die ihre gut neunzig Kilo in ein viel zu enges grünes Satinkleid gezwängt hat, lässt eine Mischung aus Sorge und Triumph vernehmen:
»Ich habe gewusst … Ich habe gewusst.«
Ich schaue Aylin fragend an, sie nickt besorgt – auch wir gehen. Als wir am Tisch meiner Eltern vorbeikommen, sehe ich, dass meine Mutter das Treiben ebenso fasziniert beobachtet wie Ingeborg Trutz und Dimiter Zilnik, der sich bereits Notizen macht. Mein Vater steht hilflos mit dem Mikro auf der Bühne:
»Nun ja … Also, manchmal, da … äh … treten unvorhergesehene Ereignisse ein und machen eine geplante Rede … äh, eigentlich überflüssig. Lassen Sie mich dennoch zu meinem Hauptgedanken zurückkehren …«
In diesem Moment drückt einer der Musiker auf sein Keyboard,und das türkische Eurovisions-Gewinner-Lied von 2003 Everyway that I can dröhnt in ohrenbetäubender Lautstärke los. Eine Zehntelsekunde später ist die Tanzfläche voll. Ich brülle Aylin ins Ohr:
»Was meinst du? Soll ich bei unseren Gästen bleiben, und du fährst ins Krankenhaus?!«
»Entscheide du. Du bist der Boss.«
»Tja, also, ich bin nicht ganz sicher, was jetzt …«
»Okay, du kommst mit.«
»Okay.«
Mir wird endgültig klar, dass ich zwar offiziell der Boss bin, dass dieser Titel aber nie auch nur ansatzweise eine inhaltliche Bedeutung hatte, hat oder haben wird. Es hört sich einfach nur gut an. Aber das ist ja auch was Feines.
Als Aylin und ich den Saal verlassen, sehe ich, dass mein Vater mit einer wegwerfenden Handbewegung von der Bühne geht und daraufhin von einer Frau in einem rosaroten Glitzerkleid auf die Tanzfläche gezerrt wird. Aylin und ich eilen zur Limousine und fahren – mal wieder – zur Uniklinik.
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46
26 Stunden, 45 Minuten nach der echten und
2 Stunden nach der Fake-Hochzeit.
Bis vor einer Viertelstunde war Aylin der Mittelpunkt des Abends – jetzt ist sie
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