Der Boss
einen riesigen Karton ins Zimmer. Mein Vater ist überrascht:
»Das … scheint ja eine ganze Menge zu sein.«
Frau Denizo ğ lu öffnet stolz den Karton:
»500 Stück.«
Meinem Vater fällt die Kinnlade nach unten:
»500 Stück?«
»Keine Sorge, 500 Stück ist nur diese Karton. Aber sind noch drei andere Kartons in Flur.«
»Aber … wie viele Menschen wollen Sie denn einladen?«
»Weiß nicht. Jeder von unsere Bekannte und Familie kriegt Einladung, und wer will, kriegt auch zehn oder zwanzig und kann einladen seine Freunde und Familie.«
Jetzt mischt Cem sich ein:
»2000 kosten nur 100 Euro mehr als 1500, dann kriegen wir also 500 Karten für 100 Euro. Wenn wir 500 Karten nachdruckenlassen, kostet das aber doppelt so viel, dann hätten wir 100 Euro zum Fenster rausgeschmissen.«
Dass sie jetzt wahrscheinlich auch 100 Euro zum Fenster rausgeschmissen haben, sage ich lieber nicht. Aber Cem ist sowieso noch nicht fertig:
»Außerdem gehört die Druckerei dem Mann unserer Cousine Orkide – Harun. Und der hat mir im letzten Jahr zwei Mandanten geschickt. So konnte ich mich revanchieren.«
Frau Denizo ğ lu überreicht meiner Mutter den Karton:
»Hier, diese Einladungen ist für Sie. Wir haben gedacht, deutsche Familie ist nie so groß wie türkische. Oder brauche Sie mehr als 500?«
Jetzt räuspert sich mein Vater wieder – und fängt diesmal an zu reden, bevor Aylins Mutter ihm ein Wasserglas reichen kann:
»Nun, wir haben gemeinsam mit Daniel eine Liste erstellt mit den Menschen, die wir gerne … äh, ja, also, die uns so nahestehen, dass wir … tja … die wir dabeihaben wollen.«
Mein Vater holt nun ein DIN -A4-Blatt hervor, auf das er fein säuberlich exakt 27 Namen und Adressen geschrieben hat, und überreicht den Zettel Herrn Denizo ğ lu. Dieser nimmt den Zettel an und stellt zu seiner Überraschung fest, dass die Rückseite leer ist. Die Denizo ğ lus tauschen ratlose Blicke aus, bis Frau Denizo ğ lu es als Erste schafft, ihr Erstaunen in Worte zu fassen.
»Das … ist … alles?«
Mein Vater windet sich:
»Nun ja, wir haben uns lange und intensiv mit der Frage beschäftigt, wer in Daniels Leben wirklich wichtig war oder ist.«
»Aber ist doch egal, wer wichtig ist. Muss man einfach alle einladen, damit niemand ist beleidigt.«
»Tja, das ist eine, äh, etwas andere Einstellung. Sicherlich kulturell bedingt. Wobei ich Ihnen natürlich ihre eigenständige, individuelle Entscheidungsfähigkeit nicht absprechen will. Ich meine nur, dass die Tendenz, die Gästefrage so zu betrachten, in der osmanischen Tradition … äh … Wobei ich das natürlich noch einmal recherchieren muss, um es faktisch zu untermauern.«
Wie immer, wenn mein Vater sich in seinen Gedanken verstrickt, springt ihm meine Mutter helfend zur Seite:
»Außerdem ist die Liste noch gar nicht vollständig. Ingeborg Trutz und Dimiter Zilnik wollen einen Lyriker aus Kasachstan mitbringen, der zurzeit bei ihnen wohnt …«
Frau Denizo ğ lu hat keine Scheu, ihre Wissenslücken zu offenbaren:
»Was ist Lyriker?«
Bei solchen Fragen kann mein Vater nicht verbergen, dass er Germanistikprofessor ist:
»Die Lyrik ist neben der Epik und der Dramatik die dritte literarische Gattung. Das Wort stammt aus dem Griechischen und …«
Obwohl Herr Denizo ğ lu gerade nicht zuhört, weil er wahrscheinlich zum ersten Mal in seinem Leben die Packungsbeilage der Aspirinschachtel liest, lenkt meine Mutter das Gespräch sicherheitshalber am Thema ›Griechenland‹ vorbei, um einem unangenehmen Gesprächsverlauf vorzubeugen:
»Ein Lyriker ist jemand, der Gedichte schreibt …«
Mit der Erklärung scheint Frau Denizo ğ lu zufrieden. Mein Vater schafft es jedoch elegant, den unangenehmen Gesprächsverlauf auf andere Weise herbeizuführen:
»Ich hoffe, es stört Sie nicht, dass unser kasachischer Freund Einreiseverbot in die Türkei hat.«
Plötzlich schaut Herr Denizo ğ lu von der Packungsbeilage auf:
»Einreiseverbot? Warum?«
»Na ja, er hat in einem seiner Verse den Völkermord an den Armeniern erwähnt. Aber das heißt nicht, dass er etwas gegen die Türkei an sich hat – im Gegenteil: Es geht ihm nur darum, eine historische Lüge zu korrigieren.«
»Was für eine historische Lüge?«
»Ich meine die Leugnung des Völkermords.«
»Welcher Völkermord?«
»Der an den Armeniern.«
»Das stimmt. Das ist eine Lüge.«
»Nein. Die Leugnung ist die Lüge.«
»Ich nicht weiß etwas von Leugnung. Aber wenn sie auch
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