Der Boss
eine Lüge ist, bin ich dagegen.«
»Sie sind also gegen die Lüge.«
»Ja.«
»Das heißt, Sie sind auch der Meinung, dass die Türkei sich der historischen Wahrheit stellen muss.«
»Türkei hat eine große Geschichte. Ist eine stolze Nation.«
»Abgesehen vom Völkermord.«
»Natürlich. Mord ist eine Scheise. Darf nicht geben so was …«
Mein Vater ist zufrieden. Für zwei Sekunden.
»… und hat auch nicht gegeben.«
»Also leugnen Sie den Völkermord doch?!«
»Nein, wie ich gesagt, ich bin gegen.«
»Wogegen?«
»Egal. Auf jeden Fall: Völkermord ist eine Scheise, Leugnen ist auch eine Scheise, aber wir Türken haben alle gar nix gemacht. Wenn einer hat gemacht Scheise, waren immer die Griechen.«
Mein Vater hat keine Ahnung, was Herr Denizo ğ lu meint, und ich vermute, Herr Denizo ğ lu selbst auch nicht. Das Gespräch stockt kurz, bis mein Vater den Faden wieder aufgreift:
»Ich halte es für ausgesprochen wichtig, die historischen Tatsachen anzuerkennen. Als zum Beispiel in den Nürnberger Prozessen die Verbrechen der Nazizeit aufgearbeitet wurden …«
Ich schaue zur Uhr:
»72 Minuten 17 Sekunden – ganz schwach!«
Herr Denizo ğ lu weiß natürlich nicht, worum es geht, und es ist ihm wohl auch egal:
»Griechen und Schiedsrichter sind schlimmste Menschen auf diese Planet.«
Da meine Mutter weiß, dass mein Vater gerade im Kopf an einer rhetorisch anspruchsvollen Erwiderung auf diese Äußerung bastelt, kommt sie ihm mit einem ihrer gefürchteten Monologe zur Überbrückung angespannter Situationen zuvor:
»Also, ich muss sagen: Ich finde diese Einladungskarten toll. Man merkt sofort, dass man es mit einer fremden Kultur zu tun hat. Und was für den einen geschmacklos ist, findet der andere schön. Wäre doch langweilig, wenn wir alle gleich wären, nicht wahr?! Und diese goldenen Herzen und die ganzen Blumen – das ist wie trivialisierter Barock, das ist gar nicht so schlimm, wie es auf den ersten Blick aussieht. Und es erinnert mich an die Cocktail-Karte in dieser Schwulenbar, in die wir damals aus Versehenreingeraten sind, wo Dimiter Zilnik im Suff mit der blonden Frau rumgeknutscht hat, die sich dann als transsexuell herausgestellt hat – na, das war vielleicht ein Abend, aber Schwamm drüber. Und warum sollen wir ›Januar‹ danebenschreiben? Unsere Freunde können sich ruhig mal mit der türkischen Sprache auseinandersetzen – das kann man doch sicher im Internet recherchieren. ›Ocak‹ ist sowieso ein viel schöneres Wort als ›Januar‹. ›Januar‹, das ist in meinem Kopf immer mit dieser miesen Absteige in Paris verknüpft, in der ein zweitklassiger Touristenmaler mir mit Ölfarbe ein Bild von Georges Braque auf den Rücken gemalt hat und dann zu besoffen war, um mit mir zu schlafen – furchtbar. Aber ›Ocak‹ – das könnte auch ein Tanzstil sein oder ein Filmtitel von Luis Buñuel. Ach, ich liebe die türkische Sprache: ›En kötü günümüz böyle olsun!‹«
Frau Denizo ğ lu bricht in hysterischen Jubel darüber aus, dass meine Mutter sich den Satz, der ihr zu Weihnachten schon so gut über die Lippen kam, tatsächlich gemerkt hat. Vielleicht ist sie auch nur erleichtert, dass der Monolog zu Ende ist. Und ich stelle mal wieder fest: Meine Eltern sind so ausländerfreundlich – wenn sie auf der Straße von einem Araber verprügelt würden, wäre das für sie eine interessante kulturelle Erfahrung.
Dreißig Minuten und eine Dreiviertelflasche Raki später haben wir alle relevanten Themen durchgesprochen. Es wird türkisches Essen und türkische Getränke geben, die von türkischen Kellnern serviert werden, bevor dann eine türkische Band türkische Lieder spielen wird. Genauso stellt man sich eine Multikulti-Hochzeit vor. Immerhin hat die Band nach Auskunft von Frau Denizo ğ lu auch zwei deutsche Songs im Repertoire: »Ein Prosit der Gemütlichkeit« und »Volare«.
Ehrlich gesagt bin ich heilfroh, dass nicht meine Eltern die Hochzeit planen, denn
a) jetzt muss sich Aylin für ihre Eltern schämen und nicht ich,
b) es ist im Freundeskreis meiner Eltern Tradition, dass jeder Gast eine lustige Geschichte über das Brautpaar erzählt – das könnte bei über 1000 Gästen ganz schön dauern; und
c) mein Vater hätte ohnehin keinen Alleinunterhalter gefunden, der das Gesamtwerk von Wolf Biermann beherrscht.
Als Herr Denizo ğ lu den letzten Tropfen Raki ins Glas meines Vaters schüttet, lässt sich dieser zu einem leichtsinnigen Versprechen
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