Der Boss
kann ja irgendwie schlecht sagen, ich bin nur hier, weil die Melody gesagt hat, dass du voll süß bist …«
Von einer Sekunde auf die andere ändert sich das Verhalten unseres Lehrers: Vor zehn Sekunden war er Viviane gegenüber noch eiskalt – jetzt guckt er wie das Krümelmonster in einer Keksfabrik.
»… tja, na ja, und da hab ich halt irgendwie gesagt, ich hab einen türkischen Freund, weil das haben ja irgendwie alle voll so gesagt und so. Dabei bin ich im Moment voll solo irgendwie, aber ich musste ja irgendwie voll was sagen. Na ja, und irgendwie …«
Jetzt platzt es aus meinem Vater heraus:
»Mit Verlaub, der inflationäre Gebrauch des Wortes ›irgendwie‹ raubt Ihren Äußerungen jegliche Prägnanz, und die adverbiale Verwendung des Attributs ›voll‹ ist umgangssprachlich und hat an einer Hochschule nichts verloren.«
»Ey, du bist voll peinlich, Opa.«
»Genau das meine ich. Besser wäre: ›überaus peinlich‹ oder ›extrem peinlich‹.«
»Ey, Mann, ey …«
»Und anstelle von ›ey‹ könnten Sie ›mit Verlaub‹ sagen. Das hätte in diesem Kontext etwas Sarkastisches und würde mich viel treffender beleidigen.«
Lipgloss-Silberleggings-und-rosa-Pumps-Viviane rollt mit den Augen und wendet sich dann wieder unserem Lehrer zu:
»Also, ich setz mich jetzt rüber ins Starbucks und warte auf dich …«
Sie zwinkert Herrn Yilmaz zu, der sich ein Grinsen nicht verkneifen kann, während sein Blick an Vivianes üppigem Dekolleté haften bleibt. Dann wendet sich Viviane an mich:
»Du bist übrigens auch immer noch voll süß irgendwie. Aber du heiratest ja in zwei Wochen, damit bist du irgendwie voll aus dem Rennen.«
Viviane verschwindet, aber der Gedanke, dass ich irgendwie voll aus dem Rennen bin, bleibt bei mir. Was heißt hier ›aus dem Rennen‹? War das ein Rennen? Und wenn ja, warum bin ich draußen? Wenn das ein Rennen war, dann habe ich Aylin bekommen und damit das Rennen gewonnen. Das Rennen kann doch jetzt unmöglich weitergehen, also kann ich auch unmöglich draußen sein, nur weil dieses rosa-silberne Farbphänomen sich gleich bei Starbucks mit meinem Türkischlehrer trifft.
Herr Yilmaz ist ebenso in Gedanken wie ich und merkt nach einigen Sekunden zu seinem Erstaunen, dass mein Vater neben ihm steht:
»Oh, äh … haben Sie auch noch eine Frage?«
»Ja. Wenn man sagen möchte, dass man die Ehe als Ausdruck des freien Willens zweier eigenständiger Individuen betrachtet, die sich entschieden haben, ihr Leben unabhängig von kulturell-sozialen Zwängen miteinander zu teilen, und man gleichzeitig betonen will, dass man die Endgültigkeit dieser Entscheidung nur deshalb anzweifelt, weil die Liebe als vergängliches Phänomen in einem zu engen Korsett ersticken kann – dass dieser Zweifel aber keinesfalls eine Negierung der Ehe an sich und schon gar nicht eine Abwertung des Entschlusses von Daniel und Aylin im Besonderen darstellt … wie kann man diesen Gedanken in wenigen einfachen Worten auf Türkisch formulieren?«
Jetzt zeigt sich eine völlige Leere im Gesicht von Herrn Yilmaz. In seinen Augen erkenne ich nur einen einzigen Gedanken: »Ich will jetzt zu Starbucks.«
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14
Noch 17 Stunden, 45 Minuten bis zur Hochzeit.
Ich sitze an einer Café-Bar im Ankunftsbereich des Köln / Bonner Flughafens. Vor mir liegt ein Pappschild, auf dem »Abdullah Denizo ğ lu« steht. Ich wurde von der Familie eingeteilt, ihn abzuholen, weil er früher in Köln bei Ford gearbeitet hat und Deutsch spricht – im Gegensatz zu Tante Hatice und ihrem Mann, die zeitgleich von Aylins Bruder Cem in Düsseldorf aufgelesen werden, sowie Onkel Mehmet und Tante Nihal, für die Herr Denizo ğ lu vor zwei Stunden zum Frankfurter Flughafen aufgebrochen ist.
Aylin versucht seit zwei Tagen gemeinsam mit ihrer Mutter und diversen Cousinen, die Hässlichkeit von Onkel Serkans Hochzeitssalon in Leverkusen hinter einer Mauer aus Deko-Kitsch verschwinden zu lassen. Seitdem wurde ich ohne Unterbrechung als Kurierfahrer eingespannt und habe unter anderem fünfzig Meter roten Samt aus einem Industriegebiet in der Nähe von Bielefeld und 150 silberne Tisch-Vasen mit integrierten rosa Stoffblumenarrangements aus einem türkischen Teppichgeschäft in Mönchengladbach abgeholt (es passten nur fünfzig in meinen Ford Ka, deshalb musste ich dreimal fahren). Da ist es eine schöne Abwechslung, dass ich heute mal einen Menschen transportieren darf.
Meine Vorfreude auf Onkel Abdullah wäre
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