Der Boss
die Decke, dann dreht sie Tante Emine auf die Seite. Kurz darauf sehe ich für eine Sekunde Tante Emines entblößtes Hinterteil, das sofort von einem etwa zehnjährigen Jungen mit dem iPhone fotografiert wird, der dafür von seiner Mutter Ay ş e einen Schlag an den Hinterkopf erhält:
»Wenn ich das bei Facebook sehe, kannst du die PlayStation vergessen, Tarkan!«
In diesem Moment klingelt mein Handy, und ich kriege fast einen Herzinfarkt: Es ist meine Mutter. Ich verlasse blitzartig das Zimmer:
»Erika, du, also, es ist so …«
»Wo seid ihr? Wir stehen am Rathaus und finden euch nicht.«
»Du, das tut mir echt leid, aber ich bin irgendwie total daneben seit gestern, deshalb hab ich vergessen, es euch zu sagen.«
»Uns was zu sagen?«
»Aylins Tante hatte gestern einen Herzinfarkt. Deshalb können wir heute nicht heiraten.«
Stille am anderen Ende der Leitung.
»Erika?«
»Ja.«
»Ich wollte euch anrufen, nach der Operation, aber ich bin bisnach Mitternacht im Krankenhaus geblieben, und danach musste ich mit dem Taxi nach Ehrenfeld, weil mein Auto da noch stand. Zu Hause wollte ich eine SMS schreiben, aber ich musste erst mal drei Gläser Rotwein trinken, um irgendwie runterzukommen. Dann bin ich neben dem Handy eingeschlafen, und heute Morgen war ich einfach nur traurig, weil ich doch eigentlich jetzt heiraten sollte, da bin ich sofort nach dem Aufwachen zur Uniklinik, und …«
»Schon gut, Daniel. Schon gut. Es … es tut mir leid.«
Ich höre meine Mutter weinen. Da das höchstens alle zehn Jahre passiert, ist es ein seltenes Naturereignis wie eine totale Sonnenfinsternis. Ich kann mich überhaupt nur an drei Situationen erinnern:
Als ihre Mutter gestorben ist.
Als Willy Brandt gestorben ist.
Als ich gesagt habe, ich ziehe aus.
Nach meinen Erlebnissen während der OP habe ich vergessen, dass man auch leise und kurz weinen kann; schon nach wenigen Sekunden stoppt sich meine Mutter:
»Entschuldigung, ich wollte nicht sentimental werden.«
»Erika, das Wort sentimental hat für mich inzwischen eine extreme Bedeutungsverschiebung erfahren. Also mach dir keine Gedanken.«
»Okay.«
Meine Mutter weint noch einmal für höchstens zwei Sekunden, dann reißt sie sich erneut zusammen, und ich höre, wie sie meinem Vater die Geschehnisse berichtet, bevor der das Gespräch übernimmt:
»Daniel? Hier ist Rigobert. Ich wollte nur sagen, äh … Es tut mir auch … also, ich weiß nicht, was ich jetzt … Es … äh … gibt einen hervorragenden Satz von Hans Magnus Enzensberger, in dem er das Auf und Ab in der Liebe in wenigen Worten ironisch auf den Punkt … Halt, Moment! Die Zeile stammt aus einem Lied von Wolf Biermann. Nein, aus den Jahrestagen von Uwe Johnson. Ja. Da steht er drin …«
»Danke, Rigobert. Es ist wirklich nett, dass du mich aufbauen willst, aber …«
»Also, der Satz … ich hoffe, ich zitiere ihn korrekt … äh … So ein Mist, jetzt fällt er mir nicht ein … Das ist ja blöd. Eben hatte ich ihn noch.«
»Egal. Der gute Wille zählt.«
»Der Satz drückt im Prinzip aus – natürlich viel eleganter als mir das jetzt möglich ist –, dass das Gefühl der Enttäuschung … Also im Vergleich zu anderen negativen, äh … Ich denke da zum Beispiel an die politische Situation im Nahen Osten. Die natürlich objektiv betrachtet schwerer wiegt als eine abgesagte Hochzeit …«
»Wie gesagt, es ist wirklich nett …«
»Oder die Verbrechen der Nazizeit.«
Ich habe vergessen, auf die Uhr zu schauen. Ich bin wirklich erledigt.
»Danke für die aufbauenden Worte, Rigobert. Ich muss jetzt auflegen. Ich melde mich!«
Als ich wieder ins Zimmer will, kommen mir mindestens 15 Verwandte entgegen. Ich erfahre, dass Tante Emine aufgrund des Besucheransturms in ein größeres Zimmer verlegt wird. In der Tür kommt es zu einem Stau, weil jetzt alle Familienmitglieder gleichzeitig in den Flur strömen, sodass die Schwester gut zwei Minuten braucht, um das Bett durch den Türrahmen zu bugsieren. Erst jetzt sehe ich, dass noch ein zweites Bett im Zimmer steht, das vorher von der Familienmasse verdeckt war. Darin liegt eine Frau mit weißen Haaren. Als ich sie überrascht ansehe, lächelt sie und redet mit einer belegten, brüchigen Stimme:
»Gott sei Dank bin ich nicht privat versichert – so eine Show kriegst du im Einzelzimmer nicht geboten.«
Daraufhin lässt sie eine heisere Lache vernehmen, die mich an einen Comic-Hund aus meiner Kindheit erinnert. Da spüre ich
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