Der Boss
eine Hand auf meiner Schulter. Es ist Aylin. Sie schaut mich mit feuchten Augen an:
»Daniel, gleich hätten wir uns das Jawort gegeben.«
Ich schaue zur Uhr. Fünf nach zehn. Wenige Sekunden späterwerde ich genauso kurz und dezent »sentimental« wie meine Mutter. (Darüber sollte ich mal mit meiner Therapeutin sprechen.)
Ich nehme meine Verlobte an beiden Händen:
»Aylin Denizo ğ lu, wollen Sie mit dem hier anwesenden Daniel Hagenberger einen neuen Hochzeitstermin finden, ihn in den Kalender eintragen und einhalten, bei gutem wie bei schlechtem Wetter, wenn keine ernste Krankheit einer Ihrer 2000 Blutsverwandten dazwischenkommt, dann antworten Sie jetzt mit Ja .«
»Ja. Ja, ich will.«
Aylin lächelt mich liebevoll an und flüstert:
»Sie dürfen die Braut jetzt küssen.«
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24
Eine Stunde, 47 Minuten nach der
geplatzten Hochzeit.
Es ist 11 Uhr 47. Eigentlich sollte ich jetzt verheiratet sein. Ich sollte mit Aylin und der Familie im Restaurant Alter Wartesaal sitzen, Glückwünsche entgegennehmen und Geschenke auspacken. Stattdessen betrete ich zum ersten Mal seit meiner Kündigung die Geschäftsräume der Creative Brains Unit.
Zugegeben, ich nehme nur aus einem einzigen Grund an der Süffels-Kölsch-Besprechung teil: Reisebüro-Kenan hat mich gefragt, ob ich 15 Teppiche vom Flughafen-Zoll abholen und zum Reisebüro fahren könne, weil er seine Mutter in dieser schweren Zeit nicht allein lassen wolle. Ich war erstaunt über die Formulierung allein lassen – wenn rund zwanzig Familienmitglieder im Zimmer sitzen und draußen noch mehrere Dutzend auf Einlass warten. Aber ich weiß inzwischen, dass sich auch die klarsten Fakten keinesfalls auf das emotionale Empfinden eines Orientalen auswirken.
Ich hatte keine Lust, irgendwelche Teppiche am Flughafen abzuholen – zumal ich die Beamten auch noch anlügen sollte, die nagelneuen Perserteppiche seien Erbstücke und würden rein privat verwendet. Aber Kenan war emotional so aufgeladen, dass ich mich in die Behauptung flüchtete, ich hätte gerade einen Anruf erhalten und müsse um zwölf Uhr zu einer Besprechung. Anschließend meldete sich mein schlechtes Gewissen – da rief ich Rüdiger Kleinmüller an und ließ die Lüge wahr werden.
Als ich mich dem Kreativbüro nähere, wird mir plötzlich bewusst, dass ich meinen alten Kollegen Karl, Ulli und Lysazum ersten Mal als Chef gegenüberstehen werde. Werden sie mich als Vorgesetzten akzeptieren? Habe ich genügend Autorität für diese Rolle? Vor der Tür halte ich kurz inne und atme tief ein und aus. Was ist das Schlimmste, was jetzt passieren kann? Ich versage als Chef, verliere den Job, werde depressiv, gerate in die Drogenszene, werde im Heroinrausch von einem streunenden Rottweiler-Mischling angefallen und kriege eine Blutvergiftung, weil ich die Tetanus-Impfung nicht rechtzeitig aufgefrischt habe, woraufhin ich mich voller Verzweiflung von der Hohenzollernbrücke stürze und dummerweise auf einem Partyschiff aufpralle, sodass das Letzte, was ich auf dieser Welt wahrnehme, das Lied »Fantasie braucht Flügel« von Helene Fischer ist. Warum mache ich eigentlich diese Übung, obwohl sie nie funktioniert?
Ich öffne die Tür und trete ein. Ulli, der seit seinem ersten Arbeitstag eine halbe Apotheke vor sich auf dem Schreibtisch stehen hat, sieht mich als Erster:
»Daniel!«
Jubel bricht aus. Karl, wie üblich mit einem Heavy-Metal-T-Shirt bekleidet (heute ein extrem ausgewaschenes Iron-Maiden -Motiv aus den Neunzigerjahren), klatscht mich mit einem »Heeeeeey!« ab, und Lysa, die immer noch aussieht wie Scarlett Johansson, umarmt mich:
»Schön, dich zu sehen – wir haben dich vermisst!«
»Hey, ich hab euch auch vermisst. Ehrlich. Und ich find’s toll, dass ihr kein Problem damit habt.«
Ulli wirft sich gerade eine Fischöl-Kapsel mit hoch konzentrierten Omega-3-Fettsäuren ein:
»Problem – womit?«
»Na, dass ich euer Chef bin.«
Jetzt schauen mich alle drei sprachlos an.
»Ach, hat der Kleinmüller euch nicht gesagt, dass …«
Es ist überflüssig, weiterzureden. Sie wissen von nichts.
»Oh, ja dann, also, äh … Man hat mich gefragt, ob ich Chef der Kreativabteilung … äh … sein will. Aber … äh … also zwischen uns … äh … da, da, da ändert sich natürlich nichts … außer natürlich die Rangordnung. So ein bisschen.«
Ich halte es für möglich, dass ich gerade nicht ganz so souverän rüberkomme wie geplant.
Ȁh, vielleicht kriege ich ja einen
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