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Der Boss

Der Boss

Titel: Der Boss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Netenjakob
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zehnköpfige Gruppe aus Tante Emines Zimmer nach draußen führen, und schlüpfe hinein.
    Ich schaue in viele betroffene Gesichter und höre, wie einige »der Bräutigam« flüstern. Aylin, die nicht viel geschlafen haben kann, umarmt mich und küsst mich – wie immer in Gegenwart der Familie – nur auf die Wangen. Tante Emine, die als Einzige im Raum gut gelaunt zu sein scheint, winkt mich zu sich.
    »O Thomas …«
    »Daniel.«
    Ich reiche ihr die Blumen.
    »Das ist so lieb von dir. Unglaublich lieb, vallaha, du bist wirklich unglaublich lieb, und bitte glaub mir von meine ganze Herz: Tut mir so leid, wegen Hochzeit.«
    »O nein, ich bitte Sie. Mir tut es leid.«
    Jetzt überkommt Tante Emine ein Pathos, mit dem sie problemlos in jedem Bollywood-Film mitspielen könnte.
    »Nein. Ich habe zerstört eure Hochzeit. Ich werde mir niemals verzeihen … Niemals … Niemals …«
    Damit wird ihre Stimme schwächer und sie fasst sich ans Herz. Für fünf Sekunden herrschen um mich herum Panik und Hysterie. Dann hebt Emine die Hand – was alle anderen verstummen lässt:
    »Korkmayın.«
    »Bitte?«
    »Macht euch keine Sorgen.«
    »Ah.«
    Tante Emine lächelt kurz pathetisch. Danach verwandelt sich ihr Gesichtsausdruck in wenigen Sekunden von »Macht euch keine Sorgen« zu »Macht euch Sorgen« – und die Botschaft kommt bei der Familie an: In Panik drückt Frau Denizo ğ lu die Fernbedienung am Bett und hebt so ihre Schwägerin in eine aufrechtePosition, woraufhin Tante Ay ş e sich unter wilden Flüchen die Fernbedienung schnappt und das Bett wieder in die Waagerechte steuert. Als die frisch operierte Emine laut aufstöhnt, machen sich Frau Denizo ğ lu und Tante Ay ş e hysterisch Vorwürfe, was Sekunden später dazu führt, dass sich der gesamte Raum in zwei Lager spaltet und sich nun alle gegenseitig anbrüllen. Wenn Tante Emine nicht schon einen Herzinfarkt gehabt hätte – spätestens jetzt würde sie einen bekommen.
    Ich erinnere mich an den Besuch mit meinen Eltern am Krankenbett von Oma Berta nach deren Herzinfarkt vor neun Jahren. Damals war sie geistig noch völlig klar. Als wir uns besorgt nach ihrem Befinden erkundigten, meinte sie nur, wir sollten nicht so betroffen gucken, als läge sie schon unter der Erde. Daraufhin schilderte ihr mein Vater, wie der Schriftsteller Peter Härtling in seiner Erzählung Die Lebenslinie seinen eigenen Herzinfarkt mit trockener Sprache beschreibt und so eine heilsame Distanz zwischen sich selbst und seinem Körper aufbaut. Nach zwanzig Minuten schlief Oma Berta ein.
    Mein Vater legte Oma Berta einen Zettel auf den Nachttisch: »Der Tod lächelt uns alle an. Das Einzige, was man tun kann, ist zurücklächeln (Marcus Aurelius)«. Meine Mutter schrieb noch »Gute Besserung« drunter, und ich malte ein Herz – wozu mein Vater mit ehrlicher Enttäuschung anmerkte, in gemalten Herzen drücke sich die Unfähigkeit der jungen Generation im Umgang mit Sprache aus. Danach lehnte Oma Berta telefonisch weitere Krankenbesuche mit den Worten ab: »Nutzlos rumliegen kann ich auch alleine.«
    Die Einstellung der Herzinfarkt-Tante-Emine zeigt hierzu geringfügige Abweichungen. Erstens erkundigt sie sich ständig mit vorwurfsvollem Unterton nach nicht anwesenden Familienmitgliedern, und zweitens stöhnt sie immer dann gequält auf, wenn sich die allgemeine Anspannung zu sehr gelockert hat. So hält sie das Zimmer auf einem konstanten Hysterie-Level, der allerdings nicht den Höchststand während der OP erreicht; er hat sich etwa auf dem Niveau von Jodie Foster in Panic Room eingependelt.
    Solange alle besorgt sind, nehmen Tante Emines Gesichtszügeden Ausdruck tiefster Zufriedenheit an. Bis sich die Familie entspannt und das Spiel von vorne losgeht.
    Als gerade eine Frau, die ich nicht kenne, der kranken Emine unter Tränen und sehr, sehr laut versichert, dass sie sie unendlich liebt, bemerkt niemand außer mir die zierliche Krankenschwester, die sich mühsam den Weg durch die Menge bahnt. Sie versucht zweimal vergeblich, gegen den Lärmpegel anzureden, dann brüllt sie:
    »Bitte alle den Raum verlassen! Ich muss eine Spritze setzen.«
    Offensichtlich ist sie es nicht gewohnt, ihre Stimme zu erheben, weshalb sie sich überschlägt. Es folgt eine kurze Stille, in der alle Anwesenden die Krankenschwester verblüfft angucken, bis Tante Emine abwiegelt:
    »Ist kein Problem. Ist Familie. Kann ruhig sein dabei.«
    »Gut. Wie Sie meinen.«
    Damit lüftet die Krankenschwester zunächst

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