Der Boss
besitzt. Für sein Hupen wird er von Aylin mit dem Attribut »Göt Lalesi« versehen, das Aylin auf meine Nachfrage mit »Arschtulpe« übersetzt, erneut begleitet von einem süßen Entschuldigungslächeln.
»Tut mir leid, ich bin ein bisschen nervös – ich will dir unbedingt zeigen, wie gut ich schon fahren kann.«
Da ich inzwischen jede Menge Praxis im Nahtoderlebnisse-Verdrängen habe, atme ich nur tief durch und versuche, positiv einzuwirken.
»Schon okay. Denk einfach dran – du hast die Prüfung bestanden. Das heißt, du kannst es.«
»Wieso Prüfung? Kenan hat den Führerschein gekauft.«
»Was???«
Aylin rast auf die Kreuzung Venloer Straße / Innere Kanalstraße zu, beschleunigt kurz auf 90 km / h, legt dann eine Vollbremsung hin und kommt schließlich etwa zwölf Zentimeter vor einem Ford Transit zum Stehen. Mein Herz setzt drei Schläge aus und wummert dann zehnmal kräftiger als der Bass im Bernd-Banane-Playback.
Aylin reagiert etwa so, als hätte sie beim Eingießen ein paar Tropfen Tee verschüttet:
»Sorry, Daniel, ich habe kurz Gas und Bremse verwechselt, hihi.«
Selbst das süßeste Entschuldigungslächeln, das ich je bei Aylin gesehen habe, kann nicht verhindern, dass ich um mein Leben fürchte. Ich ziehe den Schlüssel aus dem Zündschloss. Aylin protestiert:
»Hey, was soll das?«
»Kenan hat den Führerschein … gekauft ?«
»Klar.«
»Klar???«
»Klar.«
Die Ampel ist mittlerweile grün. Hinter uns stehen mehrere hupende Autos. Das ist mir egal.
»Aber das … das ist illegal.«
»Tante Emine wollte ihn mir eigentlich zur Hochzeit schenken,aber dann hat sie ihn mir schon vorher gegeben, damit ich ihr eine neue Bettdecke besorgen kann. Wie hätte ich das ablehnen können?!«
»Aber wo hast du fahren gelernt?«
»Kenan war mit mir auf dem Verkehrsübungsplatz.«
»Wie lange?«
»Zweimal zwei Stunden.«
»Du hast gerade mal vier Stunden Fahrpraxis!«
»Und dann sind wir auch noch eine Stunde zusammen durch die Stadt gefahren. Kenan meinte, ich habe Talent.«
»Ja. Für fünf Stunden fährst du sensationell. Aber man braucht mindestens zwanzig!!!«
»Es sind sechs Stunden. Ich habe die neue Bettdecke in Bergisch Gladbach besorgt.«
Das Hupkonzert hinter uns wird lauter. Es kümmert mich nicht.
»Sag mal, bist du eigentlich lebensmüde?!«
»Gestern bin ich besser gefahren – ehrlich.«
»Aylin, du musst eine Fahrschule besuchen und …«
»… und dann kommt raus, dass ich den Führerschein schon habe, und Kenan kriegt einen Riesenärger.«
»Aber …«
»Außerdem muss man da völlig überflüssige Verkehrsregeln auswendig lernen – wer hat da schon Lust drauf?!«
»Okay. Frage: Du kommst an eine Kreuzung ohne Verkehrsschild. Von rechts kommt ein Auto. Wer hat die Vorfahrt?«
»Hmmm … Das mach ich spontan, nach Gefühl.«
»Aylin, jetzt mal ganz im Ernst: Wir Deutschen sind pedantisch und weltberühmt für unsinnige Verbote. Aber zwei Dinge sind nicht verhandelbar: die Menschenrechte und die Verkehrsregeln.«
»Menschenrechte – okay. Aber Verkehrsregeln?«
Die Autos hinter uns fahren jetzt auf der Rechtsabbiegespur an uns vorbei und zeigen uns den Vogel. Auch das ist mir egal. Da sehe ich im Rückspiegel den BMW , dem Aylin die Vorfahrt genommen hat. Er hält direkt hinter uns, der Fahrer steigt aus und kommt auf uns zu. Das ist mir nicht mehr egal.
»Aylin – die Türen verriegeln – schnell!«
Zu spät. Der BMW – Fahrer reißt die Fahrertür auf.
»Heeeeeey! Aylincim!!!«
Es ist Aylins Bruder Cem, der einzige rothaarige schwule türkische Anwalt, den ich kenne. Aylin kreischt vor Freude, springt aus dem Auto und umarmt ihn. Ich winke durch die geöffnete Tür. Cem tadelt seine Schwester:
»Das war echt knapp eben, Aylincim! Ich hab dir doch gesagt: Die ersten drei, vier Wochen nicht bei Rot – dafür brauchst du mehr Praxis.«
»Bin ich bei Rot gefahren?«
»Allerdings. Und sogar ich fahre bei Rot höchstens zwanzig oder dreißig. Auf der Landstraße ist es was anderes, da siehst du ja, ob einer kommt.«
Seltsam – diese Frage wurde in meiner Fahrschule gar nicht thematisiert: »Was ist die empfohlene Richtgeschwindigkeit beim Überfahren einer roten Ampel innerhalb einer geschlossenen Ortschaft?« Ich kann es nicht fassen, was ich höre, und springe auch aus dem Auto. Mein Mantel nötigt Cem Respekt ab:
»Heey Schwager, du siehst ja aus wie ein Stück neugeborener Mond.«
»Danke. Aber wie kannst du es
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