Der Boss
Hurra-wir-können-jetzt-doch-heiraten-Glücksgefühl durch und komme auf: toll,klasse, supi, spitze, geil, supergeil, megageil und geilomat. Offensichtlich ist mein Sprachzentrum von akutem Sauerstoffmangel befallen.
»Alles okay, Daniel? Daniel? Daniel?«
Ich schrecke aus einem Sekundenschlaf hoch.
»Ja. Alles ist … äh … super.«
Ich habe mal wieder eine schlaflose Nacht hinter mir. Aylin ist gegangen, als Onkel Abdullah wiederkam. Ich weiß nicht, wie er das schafft, aber er schnarcht schon während des Zähneputzens los. Und gestern Nacht hat er einen neuen Rekord aufgestellt – dieser Mann verursacht beim Schnarchen mehr Lärm als ein startender Düsenjet mit Hella von Sinnen und den Ten Tenors an Bord.
Um mich abzulenken, habe ich die ganze Nacht türkisches Fernsehen geguckt. Obwohl ich außer »Allah, Allah« und »Pezevenk« (Zuhälter) kein Wort verstanden habe, hielt ich sechs Folgen osmanischer Seifenopern hintereinander durch – in der Hoffnung, dass mein Gehirn davon aufweicht und ich einschlafen kann. Was natürlich nicht funktioniert hat. In einem Anflug nächtlichen Wahnsinns habe ich dann ab halb vier mithilfe meiner Stoppuhr interessante Statistiken über das Verhalten von Türken in Soaps erstellt:
28 % der Zeit weint eine Frau, während sich Männer hilflose Blicke zuwerfen.
19 % der Zeit weinen Frauen gemeinsam ohne Männer.
14 % der Zeit tröstet eine Frau eine weinende Frau.
12 % der Zeit versuchen Männer, hysterische Frauen zu beruhigen.
11 % der Zeit streitet sich ein Liebespaar.
8 % der Zeit versuchen Frauen, Männer zu überreden, eine Waffe nicht zu benutzen.
5 % der Zeit versuchen heterosexuelle Paare, sich heimlich zu küssen, in Angst, dabei erwischt zu werden (davon werden sie in 43 % der Fälle auch tatsächlich erwischt).
2 % der Zeit werden Männer von streitenden Frauen beim Fußball-Gucken gestört.
1 % der Zeit werden Männer von weinenden Frauen beim Fußball-Gucken gestört.
Aylin sieht mich fragend an. Ich kämpfe gegen den Schlaf.
»Hast du verstanden, Daniel? Ich habe gesagt, Onkel Serkan verrechnet die Kosten mit dem Ausfallhonorar vom Samstag. Dann müssen deine Eltern nicht draufzahlen.«
Schlagartig bin ich wach:
»Äh, Moment. Meine Eltern?«
»Ja, klar.«
»Wir dachten, deine Eltern zahlen.«
»Nein, es zahlt doch traditionell die Familie des Bräutigams.«
»In Deutschland zahlt die Familie der Braut.«
»Oh.«
»Oh.«
»Tja.«
»Und was sollen wir jetzt machen, Daniel? Vielleicht 50 / 50?«
»50 / 50? Aylin, das sind doch alles eure Gäste – wir wollten höchstens 50 Leute einladen, ich meine …«
Aylin schmollt. Das ist natürlich ein Argument.
»… ich meine, 50 / 50 klingt fair. Ich rede mal mit Rigobert und Erika.«
Aylin lächelt wieder und will mich gerade mit einem Versöhnungskuss belohnen, als mal wieder ihr Handy klingelt. Diesmal ist es Reisebüro-Kenan. Aylin erschrickt, sagt dann mehrfach »O nein!« und »Allah, Allah«. Dazu macht sie ein bestürztes Gesicht. Mein Magen krampft sich zusammen. Ist Tante Emines Voraussage doch noch eingetroffen und eine Komplikation aufgetreten? Das Gespräch zieht sich viel zu sehr in die Länge.
»Allah, Allah … O nein! Allah, Allah … Allah, Allah … O nein!«
Ich fürchte, ich werde bis zur Hochzeit bei jedem Anruf Panik kriegen. Aylins engster Familienkreis besteht aus gefühlt 500 Leuten – die können doch nie alle gleichzeitig gesund sein. Und ich kenne bisher nur eine Regel:
Verwandter zweiten Grades (Tante) + Herzinfarkt = Absage .
Aber was wäre, wenn ein Cousin einen Nierenstein hat? Was ist mit Gelbsucht bei Verwandten dritten Grades oder Borreliosebei angeheirateten Onkeln mütterlicherseits? Das macht mich verrückt: dass meine Hochzeit von einem einzigen Zeckenbiss abhängen kann. Meine Therapeutin hat mir zwar geraten, ich soll das Glas nicht als halb leer, sondern als halb voll betrachten. Aber immer wenn ich mir das Glas halb voll vorstelle, dann ist Kräuter-Bionade drin. Und ich hasse Kräuter-Bionade.
Ich weiß ja inzwischen: Alles ist Schicksal, und wenn der Beduine Pech hat, fickt ihn in der Wüste ein Polarbär. Trotzdem werde ich langsam nervös, denn Aylin telefoniert immer noch:
»Allah, Allah … Inanmıyorum … Allah, Allah …«
Das Wort Inanmıyorum kenne ich inzwischen auch, weil es so oft verwendet wird. Es bedeutet: »Ich glaube es nicht.« Paradoxerweise wird es meistens
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