Der Boss
eine echte Harley Davidson ist, habe ich doch das Gefühl, dass meine Nerven ganz langsam den Geist aufgeben. Ich habe mich seit Monaten auf die Hochzeit gefreut, und jetzt ist allein die Tischordnung komplizierter als eine Friedenskonferenz im Gaza-Streifen. Mit den Informationen, die mir zugetragen wurden, habe ich in meiner Mittagspause eine Tabelle erstellt, um einen Überblick über die aktuelle Situation zu bekommen:
Diese Liste ist gerade mal ein paar Stunden alt und stimmt schon nicht mehr: Zwar haben sich Ay ş e und Abdullah überraschenderweise versöhnt, dafür hat aber eine weitere Emine den Kontakt zu Ay ş e abgebrochen. Außerdem habe ich einen Streit zwischen Yasemin und Gül ebenso außer Acht gelassen wie die Tatsache, dass Mustafa seit drei Tagen den Kopf wegdreht, wenn er Valide sieht. Ich habe das Gefühl, wir bewegen uns im Kreis.
Als wir meine Wohnung betreten, beendet Aylin gerade ein Handygespräch und strahlt mich an:
»Das war Onkel Abdullah. Er lädt dich zu einem Männerabend ein. Mein Vater kommt auch. Und Onkel Mustafa. Und Cem mit seinem Freund.«
Perfekt. Mal was mit der Familie unternehmen – was für eine schöne Abwechslung! Ich spüre ein Kribbeln in der Nase – wahrscheinlich bin ich kurz davor, eine Allergie gegen das Wort »Familie« zu entwickeln. Wenn meine Hautärztin auf meinem Rücken mit ein paar Schnäuzerhaaren von Onkel Abdullah einen Prick-Test durchführen würde, hätte ich bestimmt schon einen Ausschlag wie bei Pferden, Katzen und Paranüssen. Trotzdem ist es eine nette Geste, dass Onkel Abdullah sich für meine Gastfreundschaft revanchieren möchte. Also halte ich mal schön den Ball flach:
»Okay, wo treffen wir uns denn?«
»Bei dir.«
»Bei mir?«
»Ja.«
Das war’s. Die Schlacht um meine Privatsphäre
Anmerkung
ist endgültig verloren. Nach dem Gästezimmer fielen heute auch Küche und Wohnzimmer unter osmanische Herrschaft. Ich muss gleich mal draußen nachschauen – ich wäre erstaunt, wenn immer noch Hagenberger auf dem Klingelschild steht. Aber was soll’s? Ich besuche mehrmals in der Woche eine fremde Tante im Krankenhaus, parke auf Frauenparkplätzen, hole die Familie in die Firma und gebe mich als Moslem aus. Warum soll ich nicht auch noch die Kontrolle über meine eigene Wohnung aufgeben?
»Super-Idee. Männerabend in meiner Wohnung. Ich freue mich.«
Da ist es wieder: Aylins Lächeln. Und schon geht es mir gut. Nun ist es ja eine alte männliche Tradition, in der Gegenwart einer attraktiven Frau auf so unbedeutende Dinge wie Selbstachtung zu verzichten. Trotzdem frage ich mich, ob es langfristig klug ist, wenn ich nur für ein Lächeln meine Prinzipien schneller wechsle als ein durchschnittlicher FDP – Abgeordneter.
Aylin schaltet den Samowar an, den Onkel Abdullah gestern anstelle meiner Kaffeemaschine auf die Arbeitsplatte gestellt hat:
»Ich bereite euch schon mal Tee vor – sie kommen nämlich in einer halben Stunde.«
»Gut zu wissen.«
»Und denk dran: Cem ist natürlich nicht offiziell mit Chrístos zusammen. Sie sind einfach nur beste Freunde.«
»Schon klar.«
»Cem kommt mit einer Frau zu unserer Hochzeit, Fatma. Sie ist eigentlich Kellnerin, aber wir haben allen erzählt, sie sei Anwältin.«
»Warum?«
»Keine Ahnung. Weil’s besser klingt, denke ich. Auf jeden Fall: Fatma ist Cems dritte feste Freundin. Alexandra durfte ihn nicht heiraten, weil ihre Eltern keinen Moslem in der Familie wollten, und Ay ç a war von Anfang an eine falsche Schlange. Das ist die offizielle Version – nur falls jemand nachfragt. Du musst wissen, nicht jeder ist so tolerant wie meine Eltern.«
»Äh, wäre es nicht toleranter, wenn sich Cem keine Lügen ausdenken müsste und seine Homosexualität offen leben könnte?!«
Aylin lacht:
»Wie süß – du bist so naiv manchmal. Ach, und Chrístos ist natürlich auch kein Grieche.«
»Natürlich nicht.«
»Er ist Moslem, genau wie du.«
»Puh – das erfordert Glaubenskraft, bei dem Namen.«
»Wieso?«
»Na ja. Er heißt halt nicht Mohammed, sondern Chrístos.«
»Stimmt. Ist mir noch nie aufgefallen. Egal.«
»Aber abgesehen davon, dass Cems Freund ein heterosexueller nichtgriechischer Moslem ist, muss ich nichts beachten?«
»Nein.«
»Gut.«
»Nur, falls du unsere Kennenlern-Geschichte erzählen willst: Onkel Mustafa weiß nicht, dass ich als Kinderanimateurin gearbeitet habe. Offiziell war ich in der Zeit bei Onkel Serkan zu Besuch.«
»Okay.«
»Außer für
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