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Der Boss

Der Boss

Titel: Der Boss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Netenjakob
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schlechte Nachricht: Dimiter-Zilnik-Inszenierungen dauern nie unter drei Stunden und sind bekannt dafür, sich zum Ende hin zu steigern.

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38
    Noch zweieinhalb Stunden nackte brüllende Menschen
und einmal schlafen bis zur Hochzeit.
    Nachdem Ingeborg Trutz ohne erkennbaren Grund – weiterhin splitternackt – schreiend durchs Publikum gerannt und verschwunden ist, bestehen die nächsten gut sechzig Minuten darin, dass sich zwei Familien pausenlos in bedeutungsschwangeren Sätzen anbrüllen und alle neunzig Sekunden aufeinander schießen. Dazu werden Bilder vom Balkankrieg auf die am Boden liegenden Leichen projiziert, während ein kopfüber von der Decke hängender Transvestit wie wild auf einem Klavier herumhämmert. Der Lärmpegel ist so hoch, dass Herr Denizo ğ lu trotz intensiver Bemühungen keinen Schlaf findet und dann unter dem Vorwand einer Magenverstimmung mit seiner Frau den Saal verlässt. Im Gegensatz zu den vielen Abonnenten, die bereits nach fünf Minuten gegangen sind, knallen sie immerhin nicht wütend die Tür zu. Dimiter Zilnik wird hinterher sagen, dass diese Menschen der emotionalen Intensität seiner Inszenierung nicht standhalten konnten. Er wird beim Verbeugen ausgebuht werden, und das wird ihn glücklich machen. Denn wenn das Publikum buht, ist es Kunst. Ich flüstere Aylin ins Ohr:
    »Ich habe dir ja gesagt, es wird schrecklich!«
    »Ich dachte, du übertreibst. Aber das hier ist schlimmer als eine Wurzelbehandlung.«
    »In der Tat. Vom Quälfaktor her kann es locker mit einem Flippers-Konzert mithalten. Ich rede mal mit deinen Eltern.«
    Unter den tadelnden Blicken meiner Eltern stehe ich auf und bewege mich in Richtung Ausgang. Ich kriege gerade noch mit, wieder splitternackte Romeo aus Leibeskräften »Ficken ist Macht« brüllt und daraufhin von einer Regenmaschine nass gemacht wird. Im Foyer sitzen die immer noch verstörten Denizo ğ lus an einem Tisch, und ich geselle mich hinzu. Frau Denizo ğ lu fächert sich mit einer Hand Luft zu, während ihr Mann mehrfach »Allah, Allah« vor sich hin murmelt.
    Panik steigt in mir hoch: Sie haben das Nacktbild meiner Mutter verdrängt und die Erzählungen über das Sexleben der Hagenbergers ignoriert. Aber über eine Dimiter-Zilnik-Inszenierung kann man einfach nicht hinwegsehen. Ich habe das Gefühl, dass eine Katastrophe passiert, wenn mir jetzt nicht sehr überzeugende Sätze einfallen:
    »Also, tja, haha, das ist modernes Theater. Wissen Sie, mein Vater ist 1944 geboren, also mitten im Krieg – wenn er etwas Schreckliches sieht, gibt ihm das ein Gefühl der Geborgenheit …«
    Die Denizo ğ lus schauen mich ratlos an.
    »… Egal. Was ich sagen wollte: Ingeborg Trutz sollte eigentlich gar nicht nackt spielen – das Kostüm ist nur nicht rechtzeitig fertig geworden …«
    Was rede ich denn da für einen Schwachsinn? Verdammt, ich brauche eine Idee … Ich habe eine Idee:
    »Tja, so ist halt Theater. Und warum ist Theater so? Weil die Griechen es erfunden haben.«
    Herr Denizo ğ lu lacht.
    »Vallaha, du hast recht, Daniel. Ich habe mich schon gefragt, warum ist so scheise. Aber das ist sehr gute Erklärung.«
    Na bitte. Auch Frau Denizo ğ lu ringt sich jetzt ein Lächeln ab. Ich seufze erleichtert:
    »Gut, dass Sie’s locker nehmen. Ich hatte schon Angst, dass Sie jetzt sagen: In so eine Familie darf Aylin nicht einheiraten.«
    Jetzt legt Herr Denizo ğ lu seinen Arm um mich:
    »Daniel, mach dir keine Sorge. Du bist schon wie eine Sohn für mich … Und seit gestern, ich bin dir auch noch über alles dankbar.«
    »Weil ich ein Kriegsheld bin?«
    »Nein, weil du Cem Mut gegeben hast, damit er endlich heiratet.«
    Jetzt bin ich überrascht: Cem hat sich schon geoutet, und seine Eltern stimmen zu? Ich kann kaum glauben, dass das so reibungslos läuft:
    »Moment mal, Sie stimmen der Hochzeit zu?«
    »Na klar. Wir warten seit Jahren darauf.«
    »Aber … ich meine … das ist unglaublich tolerant …«
    »Ich weiß, Fatmas Vater ist für Fenerbah ç e – aber was soll ich machen? Ich bin froh, dass mein Sohn kommt endlich unter die Haube.«
    »Was???????? Cem heiratet Fatma ????? Und nicht …«
    Herr Denizo ğ lu lacht:
    »Wen soll er denn sonst heiraten? Mit Ay ç a ist schon Schluss seit zwei Jahren.«
    Plötzlich dreht sich mein Kopf. Ich muss dringend mit Cem sprechen. Ich entschuldige mich bei den Denizo ğ lus, gehe nach draußen an die frische Luft und wähle seine Nummer.
    »Cem? Hier ist Daniel.«
    »Hey,

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