Der Boss
das habe ich alles in Kauf genommen, weil ich mein Leben mit dir verbringen wollte. Weil ich gedacht habe, ich muss nur diese Hochzeit hinter mich bringen, und dann wird alles gut. Nur jetzt … ganz plötzlich … weiß ich nicht, ob ich dich überhaupt richtig kenne. Ob du nicht ganz andere Werte hast als ich … Weißt du, ich wollte nie der Boss sein in deinem Leben. Wir sollten gemeinsam der Boss sein. Aber jetzt habe ich das Gefühl, wir sind nur kleine Angestellte in einer großen Firma – deiner Familie. Und das will ich nicht.«
Aylin ist erschüttert. Ich bin auch erschüttert. Warum habe ich das alles gesagt? Komm, Daniel, reiß dich zusammen. Sag irgendwas, das Aylin wieder zum Lächeln bringt. Es geht nicht. Da kommt kein Satz mehr. Ich habe gesagt, was ich zu sagen hatte. Aylin weint:
»Ich denke, unter diesen Umständen … sollten wir morgen nicht heiraten.«
Alarm! Alarm! Alaaaaaaaaarm!!!!! Los, Daniel, sag, dass alles ein Missverständnis war. Sag: Aylin, doch, lass uns bittebittebitte heiraten . Mach schon, Daniel!
Ich nicke traurig und gehe. Ich lasse sie einfach stehen, meine Verlobte. Ohne Abschied. Ohne Versöhnung. Ohne den geringsten Versuch, ihr Lächeln zurückzuzaubern. Ich gehe weg und habe nicht die Kraft, mich noch einmal umzudrehen. Monatelang hatte ich Angst davor, dass sie mich verlassen könnte. Jetzt verlasse ich sie.
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FÜNFTER TEIL
5. – 7. Februar
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39
Fünf Minuten vor der zweiten geplatzten Hochzeit.
»In wenigen Minuten erreichen wir Wolfsburg Hauptbahnhof.«
Ich schrecke aus dem Schlaf und erinnere mich: Ich befinde mich in Wagen 34 auf Platz 47 im ICE nach Berlin. Und wie es aussieht, werde ich um elf Uhr nicht neben Aylin im Kölner Rathaus sitzen, sondern neben dem leeren Platz 48 in Wolfsburg. Ausgerechnet Wolfsburg.
»In a few minutes we will arrive at Wolfsburg main station.«
Der Schaffner könnte den Satz auch noch auf Französisch, Italienisch und Kisuaheli wiederholen – er würde Wolfsburg trotzdem kein internationales Flair verleihen. Ich bin dem Schicksal zwar dankbar, dass ich in Köln-Mülheim eingeschlafen bin, sodass mir der Anblick von Leverkusen erspart blieb – aber jetzt werde ich die Minuten, die die schönsten meines Lebens werden sollten, in Wolfsburg verbringen. Wolfsburg – der Barbarossaplatz
Anmerkung
als Stadt.
»Der Ausstieg ist in Fahrtrichtung links. The äh … out-step is in the driving direction left.«
Meine Abneigung gegen Wolfsburg ist eigentlich pures Vorurteil – schließlich war ich noch nie dort. Vielleicht ist es ja in Wirklichkeit eine architektonische Perle und wird von Kennern ›das Florenz von Niedersachsen‹ genannt. Ich wage es allerdings zu bezweifeln.
Auf meinen Streit mit Aylin folgte eine zweistündige Tour durch Kölner Altstadt-Kneipen, bei der mich selbst das Mitgrölen der 1. FC -Köln-Hymne in der Stimmungskneipe »Keks« nicht aufheitern konnte – und das trotz erheblich gestiegenen Alkoholpegels. Danach irrte ich ebenso betrunken wie ziellos durch die Kölner Altstadt, diskutierte zwischendurch eine halbe Stunde mit dem Millowitsch-Denkmal über das Thema Großfamilie, beschloss schließlich, die Begegnung mit Onkel Abdullah zu vermeiden, und checkte im Hotel »Heinzelmännchen« ein. Dabei verfestigten sich drei Gedanken in meinem Kopf:
Ich habe – vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben – nicht versucht, es allen recht zu machen, nur damit man mich liebt.
Meine Therapeutin wird stolz auf mich sein.
Das Timing meiner Selbstfindung war extrem beschissen.
In den folgenden Stunden habe ich festgestellt, dass ich auch ohne Onkel Abdullahs Schnarchen die Nacht durchmachen kann. Ich wollte Aylin vergessen, indem ich auf irgendeinem Spartenkanal drei Blondinen beim Strip-Poker zusah. Nach fünf Minuten legte die erste Dame ihren Silikonbusen frei und zwinkerte dabei so verkrampft in die Kamera, dass die Darbietung einen ähnlichen Erotik-Level erreichte wie die nackte Ingeborg Trutz – danach habe ich zwei Stunden lang bei Center TV die Straßenbahnlinie 16 durch Köln fahren sehen.
Anschließend versuchte ich bei einer Wiederholung von Gute Zeiten, schlechte Zeiten vergeblich, mit einem Typen mitzuheulen, der gerade von seiner Freundin verlassen wurde – woraufhin ich aus Frust bei einem Homeshopping-Kanal anrief und mir sechs Spültücher aus der Das-Blaue-Wunder- Kollektion bestellt habe – doch selbst die Aussicht, mein Geschirr demnächst mit
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