Der Boss
übrig – gold und rot. Hätte ich alles geben können, würde jetzt viel hübscher aussehen.«
Meiner Mutter verschlägt es für einen Moment die Sprache:
»Äh, haha, ja, also, äh …«
»Und einfach nur ein paar Kerzen – macht unheimlich viel aus. Und aus Keupstraße kann Kenan besorgen wunderschöne Bilder mit Blumen, aus Leder, mit Hand gemacht. Sieht vallaha unglaublich aus. Und kann man bisschen Porzellanfiguren in die Ecke stellen.«
»Tja, ich denke nicht, dass das Dimiters Intention …«
»Und Möbel – warum sind keine Möbel in Zimmer? Müssen alle auf dem Boden sitzen, ist unheimlich unbequem.«
»Wissen Sie, Frau Denizo ğ lu, Dimiter geht es darum, den Schmerz und die Schrecken des Balkankrieges auszudrücken. Ich denke nicht, dass roter Tüll oder Blumenbilder aus Leder diesen Zweck erfüllen würden – oder was meinen Sie?«
»Ich meine: Einfach alles grau – das ist so schade. So schade. So schade, vallaha.«
Ein blechernes Husten verkündet, dass nun auch der Regisseurim Auditorium Platz genommen hat. Das Licht geht aus, und ein Spot leuchtet mit kalkweißem Licht in die schmale Gasse zwischen den beiden leeren (beziehungsweise suggestiven ) Räumen. Während entfernte Kampfgeräusche eingespielt werden, die sich vortrefflich mit Dimiter Zilniks Husten vermengen, kriecht eine nackte alte Frau auf allen vieren quälend langsam in Richtung Rampe, bleibt dann zusammengekrümmt liegen und wimmert. Meine Mutter ist aufgeregt und flüstert:
»Gucken Sie mal, Frau Denizo ğ lu – da ist Ingeborg Trutz.«
Auf den Gesichtern der Denizo ğ lus kann ich sehen, was das Wort ›Kulturschock‹ bedeutet. Sie sind ja schon einiges von meinen Eltern gewohnt, aber beim Anblick der zusammengekrümmten nackten Ingeborg Trutz fasst sich Frau Denizo ğ lu ans Herz und atmet schwer. Aylin schaut mich besorgt an; Herr Denizo ğ lu holt unwillkürlich eine Gebetskette hervor und wendet den Blick ab.
Ich finde es grundsätzlich großartig, wenn alte Menschen zu ihrem Körper stehen. Das ist allerdings meine theoretische Einstellung. In der Praxis frage ich mich gerade, ob der Anblick von Ingeborg Trutzens ergrauten Schamhaaren in weniger als drei Metern Entfernung meinen zukünftigen Schwiegereltern nicht doch eine zu große Verdrängungsleistung abverlangt.
Mein Vater wendet sich Herrn Denizo ğ lu zu und flüstert ergriffen:
»Das ist typisch Dimiter Zilnik. Sehen Sie das Wort ›Ficken‹ auf Ingeborgs Hintern? Es geht darum, die kleinbürgerlich-spießige Vorstellung, die wir von der Julia-Figur haben, unverzüglich und schonungslos zu brechen.«
Die Augen von Aylins Vater starren ausdruckslos ins Nichts. Er könnte nicht noch schockierter sein – selbst wenn Costa Cordalis im Wohnzimmer der Denizo ğ lus die griechische Nationalhymne anstimmen oder die PKK im Trabzonspor-Stadion ein freies Kurdistan ausrufen würde. Dieser Mann befindet sich gerade im gleichen Zustand wie Keanu Reeves, als er zum ersten Mal die Matrix verlässt: Er muss erkennen, dass er sich sein Leben lang etwas vorgemacht hat und die Welt ein hässlicher, brutaler Ort ist.
Er wird erst aus seiner Schockstarre gerissen, als seine Frauhektisch eine 300 - ml - Flasche Kolonya aus ihrer Handtasche holt, seine Hände ergreift und mindestens 100 ml hineinschüttet. In einer automatischen Bewegung klatscht sich Herr Denizo ğ lu den Flüssig-Urinalstein ins Gesicht und holt das nach, was er in den letzten zwei Minuten schlicht vergessen hat: das Atmen.
Nachdem Ingeborg Trutz etwa drei Minuten wimmernd auf dem Boden lag, springt sie urplötzlich auf – wobei mich ihre Haut ein kleines bisschen an meinen Besuch im Panzernashorn-Gehege des Kölner Zoos erinnert – und brüllt:
» ICH – BIN – EINE – HUUUUREEEEEEEEE !!!!!
ICH – HABE – EINE – MÖÖÖÖÖÖÖÖÖÖÖSEEEEEEEEE !!!!!!«
Wie es scheint, hat Dimiter Zilnik den Shakespeare-Originaltext tatsächlich geringfügig abgewandelt. Oder, wie es im Programmheft heißt: die subtile Erotik der Shakespeare’schen Originalsprache ins 21. Jahrhundert transferiert . Wenn das wahr ist, hole ich mir morgen einen Popel aus der Nase und behaupte, ich habe die Venus von Milo neu interpretiert.
Frau Denizo ğ lu schaut flehend zum Notausgangsschild und hyperventiliert. Herr Denizo ğ lu hat die Augen geschlossen, und Aylins Hand krampft sich in meinen Oberschenkel.
Die gute Nachricht: Den ersten Schock haben wir überstanden.
Die
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