Der Botschafter
Tagungsort stand schon seit langem fest, und der zugefrorene See und die dichten Nebel des neuseeländischen Winters bildeten einen passenden Rahmen für den trübseligen Zustand der Gesellschaft nach Picassos Ableben. Mit seinen beim MI6 gesammelten Erfahrungen war der Direktor auf gelegentliche operative Fehlschläge vorbereitet, aber nichts in der Geheimdienstwelt war mit dem globalen Kahlschlag zu vergleichen, der in den Stunden nach Picassos Tod einsetzte. Über Nacht wurden alle Unternehmen eingestellt.
Sämtliche Pläne für neue Aktionen wanderten stillschweigend in den Reißwolf. Nachrichtenverbindungen wurden gekappt.
Zugesagte Gelder wurden zurückgehalten. Der Direktor igelte sich in seiner Villa in St. John's Wood ein, wo ihm nur Daphne Gesellschaft leistete, und tat, was jeder gute Geheimdienstmann nach einem krassen Mißerfolg tut - er schätzte den Schaden ab.
Und als er den richtigen Zeitpunkt für gekommen hielt, machte er sich still daran, seinen in alle Winde zerstreuten Geheimorden wieder zu sammeln.
Die Tagung auf der Südinsel sollte eine Art Eröffnungsparty der neuen Organisation werden. Aber der Wiederaufbau der Gesellschaft war bestenfalls zögerlich vorangekommen. Zwei Mitglieder des Exekutivausschusses machten sich nicht einmal die Mühe, an der Konferenz teilzunehmen. Einer wollte einen Stellvertreter entsenden, was der Direktor lachhaft fand. Kurz nach Eröffnung der Sitzung beantragte der Direktor in einem seltenen Anfall von Gereiztheit den Ausschluß dieser Mitglieder. Sein Antrag wurde einstimmig angenommen, was Daphne pflichtgemäß auf ihrem Stenoblock notierte.
»Punkt zwei unserer Tagesordnung betrifft das Hinscheiden Picassos«, fuhr der Direktor fort und räusperte sich dezent. »Ihr Tod ist für Sie alle bestimmt ein schwerer Schock gewesen, aber wenigstens ist sie jetzt nicht mehr in der Lage, der Gesellschaft schaden zu können.«
»Meinen Glückwunsch zu der professionellen Art, mit der Sie dieses Problem gelöst haben«, sagte Rodin.
»Nein, nein, Sie haben mich mißverstanden«, widersprach der Direktor. »Ihr Tod ist wirklich ein Schock gewesen, denn die Gesellschaft hat absolut nichts damit zu tun gehabt.«
»Und was ist mit Oktober? Er lebt doch noch, nicht wahr?«
»Davon gehe ich aus, aber ich bin mir nicht sicher. Vielleicht hält die CIA ihn versteckt. Vielleicht hat Michael Osbourne ihn ermordet und seine Tat vertuscht. Bestimmt kann ich nur sagen, daß alle unsere Bemühungen, ihn aufzuspüren, fehlgeschlagen sind.«
»Vielleicht kann ich Ihnen behilflich sein«, schlug Monet vor, der im israelischen Mossad die Operationsabteilung leitete.
»Unsere Männer haben schon oft bewiesen, daß sie flüchtige Verbrecher aufspüren können. Jemand wie Oktober dürfte nicht allzu schwer zu finden sein.«
Aber der Direktor schüttelte langsam den Kopf. »Nein«, sagte er. »Selbst wenn Oktober noch lebt, dürfte er uns meiner Meinung nach auch in Zukunft keine Schwierigkeiten machen.
Am besten lassen wir die Sache auf sich beruhen, finde ich.«
Der Direktor senkte den Kopf und blätterte in seinen Unterlagen.
»Womit wir bei Punkt drei unserer Tagesordnung wären - der Situation im ehemaligen Jugoslawien. Die kosovoalbanische Befreiungsarmee UCK bittet uns um Unterstützung. Gentlemen, wir sind wieder im Geschäft.«
EPILOG
LISSABON BRÉLÈS, BRETAGNE
Jean-Paul Delaroche hatte sich eine kleine Wohnung in einem heruntergekommenen bernsteingelben Apartmenthaus mit Blick über den Lissabonner Hafen genommen. Er war nur einmal kurz in Lissabon gewesen, und der Ortswechsel gab seiner Arbeit neue Impulse. Tatsächlich erlebte er eine produktive Phase wie seit vielen Jahren nicht mehr. Er arbeitete jeden Tag von morgens bis zum Spätnachmittag und malte viele Ansichten von den Kirchen, den Plätzen und den Booten im Hafen. Der Besitzer einer der führenden Lissabonner Galerien sah ihn eines Tages malen und bot ihm begeistert an, seine Werke auszustellen. Delaroche nahm seine Geschäftskarte mit farbverschmierten Fingern entgegen und versprach, über den Vorschlag nachzudenken.
Nachts ging er auf die Jagd. Er stand auf seinem Balkon und suchte die Umgebung nach Anzeichen für eine Überwachung ab. Er durchstreifte stundenlang die Stadt in dem Versuch, etwaige Verfolger zu provozieren, damit sie sich zeigten. Er machte lange Radtouren über Land, um zu sehen, ob sie ihm folgen würden. Er brachte in seiner Wohnung Abhörmikrofone an, um festzustellen, ob
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