Der Botschafter
schien es zu genießen, einen winzigen Bruchteil seiner Geheimnisse preiszugeben. Er sprach nicht über Sarah Randolph, Astrid Vogel oder die Nacht vor einem Jahr, in der Michael und er sich hier in Cannon Point gegenseitig angeschossen hatten. Während er sprach, saß er sehr still, hatte die Hände auf dem Tisch liegen und bedeckte seine Rechte mit der Linken, um die häßliche Narbe zu verbergen, die Michael auf seine Spur gebracht hatte.
Carter stellte die Fragen, weil Michael in Gedanken bereits woanders war. Oh, er hört trotzdem zu, sagte Carter sich - Michael, das menschliche Diktiergerät, das drei Gespräche gleichzeitig aufnehmen und sie eine Woche später fehlerlos wiedergeben kann -, aber in Wirklichkeit denkt er über ein anderes Problem nach. Dann wechselte Carter ins Russische über, das Michael nicht gut sprach, und die beiden Männer beendeten ihre Unterhaltung, ohne daß er sich weiter daran beteiligte.
In der Abenddämmerung machten Michael und Delaroche einen Spaziergang. Michael, der frühere Leichtathletikstar, hatte Delaroches Knöchel dick bandagiert. Carter blieb im Haus; er wäre sich vorgekommen, als belausche er ein sich streitendes Liebespaar, und das wollte er nicht. Trotzdem konnte er dem Drang nicht widerstehen, die beiden von der Veranda aus zu beobachten. Das tat er nicht als Voyeur, sondern nur als Führungsoffizier, der auf seinen Agenten und alten Freund achtete.
Michael und der humpelnde Delaroche gingen die Strandmauer zum Bootssteg entlang. Als es dunkler wurde, konnte Carter sie nicht mehr unterscheiden, so ähnlich waren die beiden Männer sich in Größe und Körperbau. Dabei wurde ihm klar, daß sie in vieler Beziehung zwei Hälften eines einzigen Mannes darstellten. Jeder hatte Charakterzüge, die beim anderen zwar vorhanden, aber erfolgreich unterdrückt waren. Wären sie in andere Lebensumstände hineingeboren worden, hätten sie ohne weiteres die Rollen tauschen können: Jean-Paul Delaroche, CIA-Offizier; Michael Osbourne, Berufskiller.
Erst nach langer Zeit - nach einer Stunde, schätzte Carter, weil er komischerweise vergessen hatte, sich den Beginn ihres Gesprächs zu notieren - kamen Michael und Delaroche zurück.
Sie blieben bei Michaels Leihwagen stehen und sahen sich
über die Motorhaube hinweg an. Carter konnte die beiden noch immer nicht voneinander unterscheiden. Während der eine eindringlich zu sprechen schien, kickte der andere mit der Schuhspitze lässig Kieselsteine weg. Als ihr Gespräch zu Ende war, streckte der eine, der Steine weggekickt hatte, seine Hand über die Motorhaube aus, aber der andere weigerte sich, sie zu ergreifen. Delaroche zog seine Hand zurück und stieg ein. Er fuhr durch das bewachte Tor hinaus und raste in der Dunkelheit davon. Michael Osbourne ging langsam ins Haus.
APRIL
44
WASHINGTON • WIEN • SÜDINSEL, NEUSEELAND
Botschafter Douglas Cannon wurde an einem außergewöhnlich heißen Vormittag in der zweiten Aprilwoche aus dem George Washington University Hospital entlassen.
Nachts hatte es geregnet, aber am frühen Vormittag glitzerten die Pfützen in hellem Sonnenschein. Vor dem Haupteingang warteten nur eine Handvoll Reporter und Kameramänner, denn die Washingtoner Medien scheinen unter kollektiver Vergeßlichkeit zu leiden, und eigentlich interessierte sich niemand für einen alten Mann, der ein Krankenhaus verließ.
Trotzdem schaffte Douglas es, »in die Nachrichten zu kommen«, wie die Fachleute sagen, indem er laut verlangte, selbst gehen zu dürfen, statt in einem Rollstuhl hinausgeschoben zu werden - sogar so laut, daß es die Reporter draußen hörten.
»Ich hab' einen Schuß in den Rücken gekriegt, verdammt noch mal, nicht in die Beine«, knurrte Cannon. Mit dieser Bemerkung wurde er dann in den Abendnachrichten zitiert - zum großen Entzücken des Botschafters. Er verbrachte die beiden ersten Wochen seiner Rekonvaleszenz in der N Street, bevor er zu seinem Landsitz nach Cannon Point zurückkehrte. Eine kleine jubelnde Menge winkte und johlte, als Douglas' Wagen durch Shelter-Island-Heights fuhr. In Cannon Point blieb er für den Rest des Frühlings. Seine Leibwächter begleiteten ihn auf Wanderungen entlang der steinigen Flutlinie in der Upper Beach und auf den Wanderpfaden der Mashomack Preserve. Im Juni fühlte er sich wieder kräftig genug für einen Segeltörn auf der Athena. Obwohl er das Ruder Michael überließ, blaffte er Befehle und kritisierte das seglerische Können seines
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