Der Bourne Befehl
seinem Aufstieg innerhalb der Geheimdiensthierarchie sein normales hartes Trainingsprogramm etwas vernachlässigt hatte. Während er still und unermüdlich seine Dehnungsübungen machte, konzentrierte er sich auf eine gleichmäßige, tiefe Atmung.
Als sich seine Beine wieder einigermaßen normal anfühlten, schlich er die Gasse hinunter. Am Ende blieb er stehen und sah sich vorsichtig um. Die Straße war feucht von einem leichten Nieselregen, wie in einem dieser amerikanischen Agentenfilme. Man hörte fernes Donnergrollen, und plötzlich wurde der Regen stärker und trommelte auf den Bürgersteig und den Asphalt der Straße. Er schlug den Kragen seiner Jacke hoch und zog den Kopf zwischen die Schultern, während er die Umgebung nach irgendetwas Ungewöhnlichem absuchte.
Er war in eine Falle getappt – das hieß, irgendjemand wusste über seine Pläne Bescheid. Wie hatte das passieren können? Es gab nur einen Menschen, mit dem er gesprochen hatte, seit er hier in München war: Wagner, der Kontaktmann, mit dem er sich in der Neuen Pinakothek getroffen hatte. Und wenn er nicht seit seiner Ankunft am Flughafen beschattet worden war, musste es Wagner gewesen sein, der jemanden in der Moschee von Boris’ Vorhaben informiert hatte. Man konnte sich natürlich nie sicher sein, aber er hatte nicht einen Moment das Gefühl gehabt, beschattet zu werden.
Also Wagner oder wie immer sein richtiger Name war. Solange der nicht ausgeschaltet war, würde er in Gefahr sein. Das Vernünftigste war wohl, seinen Freund Iwan Wolkin anzurufen und ihm mitzuteilen, dass Wagner ein doppeltes Spiel spielte. Wenn jemand wusste, wie Wagner wirklich hieß und wo er zu finden war, dann Iwan. Er zog sein Handy hervor und wollte die Nummer schon eintippen, als ein jäher Blitz einen Mann erhellte, der auf der anderen Straßenseite in einem Türeingang stand. Im nächsten Augenblick folgte der laute Donnerschlag.
Boris hob das Handy ans Ohr und tat so, als würde er telefonieren. Gleichzeitig schweifte sein Blick in alle Richtungen, doch er sah nicht mehr zu der Tür hinüber, die nun wieder völlig im Dunkeln lag.
Schließlich steckte er das Handy ein, trat aus der Gasse hervor, entschied sich für eine Richtung und eilte die Straße entlang durch den Regen. Drei Blocks weiter trat er in einen Biergarten. Drinnen war es warm und laut, es roch nach Wurst, Sauerkraut und Bier. Ein riesiges Dachfenster gab einem das Gefühl, im Freien zu sitzen, ohne jedoch dem Wetter ausgesetzt zu sein. Boris schlängelte sich zwischen den Gästen und Kellnern hindurch und setzte sich an einen langen Tisch ganz hinten.
Jetzt erst merkte er, wie hungrig er war, und er bestellte das, was er als Erstes gerochen hatte, als er hereingekommen war. Das Bier kam fast sofort in einem riesigen Steinkrug. Er nahm zwei kräftige Schlucke und stellte den Krug auf den Tisch. Links und rechts von ihm saßen fröhliche Deutsche, die tranken und aßen, vor allem aber laut lachten und grölten. Karpow musste sich sehr überwinden, um nicht aufzustehen und zu gehen. Aber er war aus einem bestimmten Grund hier, und er würde nirgendwohin gehen, solange er nicht wusste, ob ihm der Mann im Türeingang gefolgt war oder nicht.
Seit er hier saß, waren fast ein Dutzend Leute gekommen, die ihm überhaupt nicht verdächtig erschienen. Es handelte sich hauptsächlich um Familien oder junge Paare, die Arm in Arm hereingeschlendert kamen. Als er sie sah, versuchte Boris sich zu erinnern, wann er zum letzten Mal Arm in Arm mit einer Frau … Er bezweifelte, dass er etwas versäumt hatte.
Sein Essen kam, und als er sich gerade seiner duftenden Bratwurst zuwenden wollte, kam jemand zur Tür herein. Die Härchen an seinem Handrücken stellten sich auf. Er steckte den Bissen Wurst in den Mund und kaute nachdenklich.
Er hatte den Mann aus dem Türeingang erwartet, aber das hier war eine Frau, noch dazu eine junge. Boris beobachtete sie unauffällig, als sie ihren Regenschirm ausschüttelte, ehe sie ihn schloss und sich im Restaurant umblickte. Er achtete darauf, ihr nicht in die Augen zu sehen, und konzentrierte sich darauf, eine fettige Kartoffel mit der Gabel aufzuspießen. Er schob den Bissen in den Mund, spülte ihn mit etwas Bier hinunter und blickte auf. Die junge Frau hatte sich ans Ende eines Tisches gesetzt, auf die Seite, die ihm zugewandt war.
Karpow hatte genug von diesem Quatsch; diese Leute waren offenbar blutige Amateure. Er legte Messer und Gabel auf den Teller, nahm den
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