Der Brennende Salamander
selbstverständlich hatten nie alle Insassen des Ospedale auf einmal Platz in ihr. Normalerweise wäre ich in die zweite Messe gegangen, aber an diesem Tag wollte ich unbedingt sehen, wie Matteo und Rocco zur Beichte gingen. Schon in den ersten Minuten stellte ich fest, daß Matteo heute als Ministrant diente. Es war also nur Rocco, der zum Beichtstuhl ging. Ich starrte gebannt auf den roten Vorhang, als sei er durchsichtig, und spitzte die Ohren, um irgend etwas zu hören, was mit dieser Nacht auf dem Dachboden zu tun haben könnte. Aber ich hörte selbstverständlich nichts. Wäre Pater Giovanni der Beichtvater gewesen, der eine kräftige, tiefe Stimme hat, hätte ich vielleicht etwas mitbekommen, aber Rocco beichtete bei Pater Jacopo, und der hatte eine Piepsstimme, die man auch sonst nicht richtig verstand. Ich studierte Roccos Gesicht, als er den Beichtstuhl verließ, versuchte jede Nuance zu erfassen, als wolle ich ein Porträt von ihm malen. Ich suchte jedoch vergebens. Um den ganzen Vorfall in der gebotenen Ausführlichkeit zu schildern, war die Zeit, die Rocco im Beichtstuhl verbracht hatte, zu kurz gewesen; vermutlich hatte er ihn verschwiegen.
Als er zu mir zurückkam und sich wieder neben mich kniete, schaute ich ihn noch immer prüfend an. Aber ich sah nur, daß er vor sich hin lächelte, auf eine Art, daß ich seine Überlegenheit deutlich spüren konnte.
Ich verließ die Kirche im Zorn. Und zugleich mit dem sehr starken Wunsch, daß sich bei unserem nächsten nächtlichen Zusammensein auch unter mein Hemd eine eifrige Geisterhand verirren würde. Über lange Zeit hinweg sollte es jedoch keine Geisterhände geben, die mir wohlgesonnen gewesen wären. Nicht einmal in meiner Phantasie.
Später dann, als Daniele als garzone zu uns ins Atelier kam, stand ich nicht mehr auf der untersten Sprosse der Leiter. Daniele übertraf mich mit seinem Nichtwissen bei weitem. Auch Leonello war zunächst einer, den ganz offensichtlich keine Geisterhand berührte, aber er verhielt sich wesentlich klüger als Daniele und ich: Niemand wußte, daß auch er unberührt war. Für ein paar Äpfel oder einen halben Florin hatte er in irgendeiner engen Gasse der Stadt von einem verwahrlosten Straßenjungen aus Neapel alles erfahren, was er wissen wollte. Man sah ihn auf irgendwelchen Festen als Zuschauer herumstehen, den Kopf neigen und lauschen. Und alles, was wir von ihm erfuhren, stammte aus zweiter Hand, aber es klang stets so, als habe er es soeben selbst erlebt. Im Laufe der Zeit kannte er alle Begriffe, auf die es ankam, und er erweckte den Anschein eines harten Burschen, der das Leben auf seine spezielle Weise meisterte. Und er war durchaus in der Lage, jedem Fremden genau zu berichten, in welchem der Frauenhäuser man diese oder jene Spezialität haben konnte.
Dieser Dachboden beschäftigte meine Phantasie also über Jahre hinweg und begleitete die Zeit des Wartens, wenn die Nächte heiß und stickig auf mir lasteten und die Zikaden ihr schabendes Geräusch in die Nacht hinausschickten, auf der Suche nach einem Weibchen. Und manchmal stellte ich mir dann vor, wie es wäre, solch ein Zikadenmännchen zu sein, das sein Weibchen ohne wenn und aber fand und nichts anderem folgte als seinem Trieb. Ein Wunsch, der alles andere als genehm war für die gestrengen Aufseher des Ospedale degli innocenti. Keusch sollten wir sein, gottesfürchtig. Aber das Beglückende in all dieser Zeit war, daß unsere Gedanken sich in Gefilden bewegen konnten, die jedem menschlichen Zugriff trotzten.
R ICORDANZE
1. Natürlich war Savonarola nicht tot.
Brigida hatte recht.
Natürlich gab es Hunderte, Tausende in unserer Stadt, für die er nie tot sein sollte. Sie trafen sich in geheimen Zirkeln, in den Werkstätten der Künstler, in abgelegenen Gärten. Sie lasen sich seine Predigten vor, die aufgezeichnet worden waren, eiferten ihm nach an Tugendhaftigkeit, Fleiß, Sparsamkeit und Geiz, im besonderen an Geiz, was das Beispiel der Mona Orelli Tag für Tag zeigte. Und sie alle schworen darauf, daß man den frate in fünfhundert Jahren nicht mehr als Schismatiker und Häretiker sehen, sondern als heiligen Märtyrer verehren würde.
Sie versuchten, sein Andenken in Ehren zu halten, indem sie nach wie vor schmucklose Gewänder trugen. Luxusgesetze, die stets von neuem erlassen werden mußten, hatten sie bestimmt nicht nötig. Wenn ich in der Stadt unterwegs war, sah ich noch immer viele Frauen – meist ältere Frauen –, die mit gesenktem
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